Die Erscheinung
noch, aber nicht genug, um an ihrer Ehe festzuhalten. Dafür liebte sie Simon viel zu sehr.
Das wusste nun auch Charlie, obwohl er sich etwas anderes wünschte. Jetzt lautete die Frage nur noch, wie er in den nächsten vierzig oder fünfzig Jahren mit den betrüblichen Tatsachen leben sollte. Wenigstens hatte er jetzt Gladys -und Sarah. Aber er hätte die beiden nur zu gern gegen Carole eingetauscht. Mühsam verdrängte er das Fantasiebild von ihren ausdrucksstarken Augen, ihren langen schlanken Beinen, der schmalen Taille, während sie verkündete, sie würden das neue Jahr in St. Moritz feiern.
»Ich war auf dem Weg nach Vermont, bis mich vor fünf Tagen ein Schneesturm aufhielt«, teilte er ihr mit. »Da traf ich die Besitzerin des Châteaus und … Das alles erkläre ich dir irgendwann.« Die Geschichte war zu kompliziert, um sie an einem ungeschützten Münzfernsprecher im eiskalten Shelburne Falls, Massachusetts, zu erzählen. Während er der vertrauten Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte, begann es wieder zu schneien.
»Lass mich gelegentlich wissen, wo du gerade steckst«, bat sie, und er runzelte die Stirn.
»Warum? Welchen Unterschied macht das?«
»Nun, es interessiert mich eben, ob du okay bist…« Sofort bereute sie ihre Worte.
»Nächste Woche bekomme ich ein Telefon und ein Faxgerät. Wenn ich die Nummern habe, melde ich mich.« Wenigstens hatte er einen Vorwand, um sie wieder anzurufen.
Aber Carole fühlte sich wachsend unbehaglich. Außerdem war Simon soeben ins Zimmer gekommen, um zu sehen, wo sie steckte. Im Speisezimmer warteten Dinnergäste, und sie war vor einer halben Ewigkeit verschwunden. »Am besten faxt du die Nummern an mein Büro«, schlug sie vor, und Charlie erriet sofort, dass sie nicht mehr allein war.
Welch eine Ironie … Vor einem Jahr hatte sie ihn mit Simon betrogen. Und jetzt, wo sie im Haus ihres Liebhabers wohnte, widerstrebte es ihr, mit ihrem immer noch rechtmäßigen Ehemann zu telefonieren.
»Irgendwann rufe ich dich an«, versprach Charlie. »Pass gut auf dich auf …« Er spürte, wie sie ihm entglitt. Im Hintergrund erklangen andere Stimmen. Nach dem Dinner waren die Gäste in den Salon gekommen, wo sie das Telefongespräch führte.
»Und du auf dich …« Der Abschied klang traurig. Und dann fügte sie hinzu: »Frohe Weihnachten …«
Ich liebe dich, wollte sie beteuern. Doch das durfte sie nicht. Selbst wenn Simon nicht zugehört hätte - Charlie würde ein solches Bekenntnis nicht verstehen und niemals begreifen, dass sie beide Männer liebte, aber nur mit Simon leben wollte. Jetzt war Charlie ihr liebster, bester, ältester Freund. Doch es wäre grausam gewesen, ihn mit solchen Erklärungen zu verwirren.
Nachdem er eingehängt hatte, blieb er noch lange reglos stehen, starrte den Hörer an, ohne die Schneeflocken zu spüren, die rings um ihn wirbelten. Verdammt, warum spielt sie in Simons Haus die Gastgeberin, fragte er sich. Als wären die beiden verheiratet? Um Himmels willen, sie ist nach wie vor meine Frau. Die Scheidung war noch nicht ausgesprochen … Doch es konnte nicht mehr lange dauern, und er konnte nichts daran ändern.
Seufzend stieg er wieder in seinen Kombi, fuhr langsam in die Berge und dachte an Carole.
Als er das Auto an der üblichen Stelle stehen ließ und durch den Schnee zum Château ging, dachte er immer noch an sie. Es war dunkel, nichts rührte sich. Würde Sarah auf ihn warten? Jetzt brauchte er jemanden, mit dem er reden könnte. Erwartungsvoll sperrte er die Tür auf. Doch es war niemand da. Nichts regte sich, kein Laut, keine Erscheinung, kein Gefühl. Stilles Dunkel. Ohne das Licht einzuschalten, setzte er sich ans Schlafzimmerfenster - in Gedanken bei der Frau, die er geliebt und verloren hatte - und dann bei jener anderen, die ihm nur sekundenlang begegnet war, von der er nur träumen konnte.
6
Am Tag nach Weihnachten stand er zeitig auf, tatendurstig und energiegeladen. Er wollte in die Stadt fahren und alles kaufen, was er brauchte, um die Böden zu schrubben, die Marmorstufen und die Kamine zu reinigen. Bevor er aufbrach, holte er eine Leiter aus der Abstellkammer und stieg zum Dachboden hinauf. In dem großen, von vier runden Fenstern erhellten Raum konnte er sich mühelos umschauen. Er öffnete Kartons mit alten Kleidern und Krimskrams, die Gladys erwähnt hatte, Spielzeug aus Jimmys Kindheit und seine Navy-Uniform, auch ein paar Sachen von der kleinen Peggy. Dieser Anblick brach Charlie fast das Herz.
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