Die Erscheinung
geschlossen, sondern fest verriegelt. »Diese zwei Bücher würde ich gern mitnehmen. Soll ich was unterschreiben?« Sie nickte, schob einen Zettel über den Schreibtisch und betonte, in einer Woche müsse er die beiden Bände zurückbringen. »Danke«, sagte er kurz angebunden.
Normalerweise verabschiedete er sich etwas höflicher von seinen Mitmenschen. Doch sie war dermaßen kühl und verschlossen, dass sie ihm fast Leid tat. Irgendetwas Schreckliches musste ihr zugestoßen sein. Sonst würde sie sich nicht so merkwürdig benehmen. Dieses Verhalten passte nicht zu einer so jungen Frau. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Unwillkürlich erinnerte er sich, wie Carole in diesem Alter gewesen war - warmherzig und fröhlich und sehr sexy. Aber diese unnahbare Bibliothekarin konnte nichts erwärmen -schon gar nicht das Herz eines Mannes. Zumindest seines nicht.
Auf der Fahrt zum Château vergaß er sie. Nun konnte er es kaum erwarten, die Bücher zu studieren, die er sich ausgeliehen hatte.
Als Gladys ihn am nächsten Tag besuchte, zeigte er ihr die beiden Bände. Einen hatte er bereits zu Ende gelesen, den anderen an diesem Morgen begonnen.
»Hast du Sarah wieder gesehen?«, fragte sie in verschwörerischem Ton.
»Natürlich nicht.« Inzwischen bezweifelte er, dass er der schönen Countess überhaupt jemals begegnet war.
»Nun, vielleicht taucht sie noch einmal auf. » Wohlgefällig schaute sich Gladys im Salon um, wo alles in bester Ordnung war. Sie fand es wundervoll, dass Charles das Château bewohnte, das sie stets geliebt hatte. In jenem Sommer vor vielen Jahren war sie sehr traurig gewesen, weil ihre Schwiegertochter das Haus fluchtartig verlassen hatte.
»Du hast sie nur ein einziges Mal gesehen«, erinnerte er sie, und sie lachte leise.
»Vielleicht war meine Seele nicht empfindsam genug -oder mein Geist zu schwach.«
»Wenn es danach ginge, hätte ich sie nie erblickt.« Nun schilderte er sein Telefonat mit Carole vor zwei Tagen und erwähnte, er habe seiner Ex alles über seine neue Freundin erzählt. »Sie dachte, du wirst meine nächste Frau. Darüber schien sie sich zu freuen. Aber dann erklärte ich ihr, dieses Glück würde ich überhaupt nicht verdienen.« Er genoss es, Gladys ein wenig zu foppen, und sie spielte nur zu gern mit. Jeden Tag dankte sie ihrem Glücksstern für jene Stunde, die ihn zu ihr geführt hatte. »Wie ist das Gespräch verlaufen?«, fragte sie mitfühlend. Mittlerweile wusste sie in allen Einzelheiten, was er im vergangenen Jahr durchgemacht hatte.
»Da gab's einige Probleme.
Er
war da. Und sie hatten Dinnergäste. Dass sie jetzt mit einem anderen zusammenlebt, kann ich mir nach wie vor nicht ausmalen. Wahrscheinlich werde ich mich nie an diesen Gedanken gewöhnen - und diesem Kerl bis zu meinem letzten Atemzug grollen.«
»Eines Tages wirst du drüber hinwegkommen. Ich glaube, wir gewöhnen uns an alles, wenn wir keine Wahl haben.« Wenigstens
dieses
Leid war ihr erspart geblieben. Hätte Roland sie in jungen Jahren wegen einer anderen verlassen, wären die Demütigung und der Schmerz unerträglich gewesen. Nach ihrer Ansicht hatte Charlie die schweren Zeiten recht gut überstanden. Er wirkte nicht verbittert und besaß seinen unverbrüchlichen, gesunden Humor. Hin und wieder zeigte er die Narben, die seine Seele davongetragen hatte, und Gladys las tiefen Kummer in seinen Augen. Aber seine leidvollen Erfahrungen ließen ihn nicht an der ganzen Welt verzweifeln.
»Ich dachte, ich müsste ihr frohe Weihnachten wünschen«, seufzte er. »Vermutlich war das ein Fehler. Nächstes Jahr weiß ich's besser.«
»Dann bist du sicher mit einer anderen zusammen«, meinte sie hoffnungsvoll.
»Wohl kaum«, erwiderte er mit einem wehmütigen Lächeln. »Es sei denn, Sarah lässt sich verführen.«
»Was für eine gute Idee!«, bemerkte Gladys belustigt.
Bevor sie sich verabschiedete, erklärte er, am nächsten Morgen würde er ihren Rat befolgen, nach Charlemont fahren und Ski laufen. Er hatte ein Zimmer für vier Tage bestellt und würde erst am Neujahrstag zurückkommen. »Macht's dir was aus, den Silvesterabend allein zu verbringen? Oder willst du mit mir kommen?«
Tief gerührt über sein Angebot, schüttelte sie lächelnd den Kopf. Das war typisch für ihn. Ständig versuchte er, ihr das Leben zu erleichtern, Brennholz zu hacken, Lebensmittel einzukaufen oder zu kochen. In gewisser Weise ersetzte er ihr den Sohn, den sie vor vierzehn Jahren verloren hatte und so schmerzlich
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