Die Erscheinung
Vermutlich verwahrte Gladys das alles auf diesem Speicher, damit sie es in ihrem Haus nicht sehen musste.
Eine Stunde lang inspizierte er den Inhalt mehrerer Truhen und Kartons, entdeckte aber nichts Besonderes und keinerlei Hinweise auf Sarah. Enttäuscht kehrte er ins Erdgeschoss zurück. Was hatte er zu finden gehofft? Irgendeinen Teil von Sarahs Eigentum, der hier zurückgeblieben war? Wenn es so etwas gäbe, wäre es der ordnungsliebenden Gladys längst in die Hände gefallen. Was er mit solchen Erinnerungsstücken angefangen hätte, wusste er nicht einmal. Vielleicht würden sie ihm helfen, Sarah besser kennen zu lernen … Entschlossen sagte er sich, diese Frau sei seit fast zweihundert Jahren tot. Wenn er nicht aufpasste, würde sein Interesse in Besessenheit ausarten. Hatte er nicht genug reale Probleme - auch ohne an einen Geist zu glauben und sich womöglich in ihn zu verlieben? Wenn er Carole so etwas erklären müsste … Doch das würde gar nicht nötig sein, denn er fand keine Spuren von Sarah. Und nach allem, was Gladys erzählt hatte, bezweifelte er, dass ihn der Geist noch einmal aufsuchen würde. Schließlich gewann er sogar die Überzeugung, er hätte sich die Vision nur eingebildet, geplagt vom Stress seiner gescheiterten Ehe und des Ärgers im New Yorker Büro. Oder die Countess war ihm in einem wirren Traum erschienen.
Aber als er am Nachmittag vor dem Haushaltswarengeschäft in Shelburne Falls parkte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen und ging zum benachbarten Historischen Verein. In dem schmalen alten Haus gab es eine reichhaltige Bibliothek über die Geschichte der Region und ein kleines Museum. Er wollte nach Büchern über Sarah und François suchen. Auf den Empfang, der ihm bereitet wurde, war er nicht gefasst. Eine Frau stand an einem Schreibtisch, den Rücken zur Tür gewandt. Als sie sich umdrehte, sah Charlie ein Gesicht, das einer Gemme glich - und Augen voller Trauer und Hass. Die knappe Antwort auf seinen Gruß klang fast unhöflich. Anscheinend wollte sie nicht gestört werden.
»Tut mir Leid«, entschuldigte er sich mit einem liebenswürdigen Lächeln, das keinen erkennbaren Anklang fand. Vielleicht hatte sie ein grässliches Weihnachtsfest hinter sich. Oder ein grässliches Leben. Oder, dachte er und musterte ihr abweisendes Gesicht, sie ist einfach nur ein grässlicher Mensch. Eigentlich war sie sehr hübsch, hoch gewachsen und schlank, mit fein gezeichneten Zügen, großen grünen Augen, kastanienrotem Haar und jenem hellen Teint, der genau dazu passte. Als sie die Hände auf den Schreibtisch legte, sah Charlie schmale, zierliche Finger. Und alles an ihr warnte ihn davor, auch nur einen Schritt näher zu treten. »Ich suche Material über Countess Sarah Ferguson und Comte François de Pellerin. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts haben beide hier gelebt. Der Comte starb schon viele Jahre vor der Lady. Falls Sie irgendwelche Unterlagen aus der Zeit um 1790 haben … Kennen Sie Sarah und François?«, fragte er unschuldig, worauf sie ihm einen vernichtenden Blick zuwarf.
»Da drüben finden Sie zwei Bücher.« Sie deutete auf ein Regal hinter ihm, dann notierte sie die Titel auf ein Blatt Papier, das sie ihm reichte. »Im Augenblick bin ich beschäftigt. Wenn Sie Hilfe brauchen, holen Sie mich.«
Ihr Verhalten irritierte ihn. Weder in Shelburne Falls noch in Deerfield wurde er so unfreundlich behandelt. Ganz im Gegenteil, die Leute hießen ihn willkommen und freuten sich, weil er das Château gemietet hatte. Aber diese Frau glich den Fahrgästen, die er in der New Yorker U-Bahn getroffen hatte, und sogar die waren netter gewesen. »Stimmt was nicht?« Diese Frage konnte er sich nicht verkneifen. Sicher war sie nicht grundlos so missgelaunt.
»Was meinen Sie?« Ihre Augen erinnerten ihn an grünes Eis, ein bisschen gelblicher als Smaragde. Wie mochte sie aussehen, wenn sie lächelte?
»Nun, Sie scheinen sich zu ärgern.« Als er ihren frostigen Blick erwiderte, glänzten seine braunen Augen wie geschmolzene Schokolade.
»Nein, ich bin nur beschäftigt.« Sie wandte sich ab, und Charlie fand die beiden Bücher.
Gespannt begann er, darin zu blättern. Das erste enthielt keine Illustrationen. Aber im zweiten entdeckte er tatsächlich eine Zeichnung, die ihm den Atem nahm. Ein Ebenbild seiner nächtlichen Vision, das gleiche Lächeln, die gleichen schön geschwungenen Lippen, der gleiche heitere Gesichtsausdruck, das gleiche lange schwarze Haar … Sarah - ohne jeden
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