Die Erscheinung
ihn still und würdevoll ins Schloss tragen. Aber die Dienstboten rannten aufgeregt umher, schrien um Hilfe, und ein Reitknecht wurde zum Arzt geschickt. Behutsam hoben vier Männer den Earl auf eine Bahre und brachten ihn in die Halle. Was ihm zugestoßen war, wusste Sarah nicht. Aber sie erkannte bedrückt, dass er noch lebte und dass man ihn zu retten hoffte.
»Allmächtiger, verzeih mir …«, flüsterte sie. Am anderen Ende des großen Salons flog die Tür auf, und die Bahre wurde auf den Boden gestellt. »Seine Lordschaft ist vom Pferd gestürzt, Mylady«, verkündete einer der Diener. Wortlos bedeutete sie den Männern, ihren Gemahl nach oben ins herrschaftliche Schlafgemach zu bringen, und folgte ihnen. Als sie ihn aufs Bett legten, sah sie, dass er immer noch dieselbe Kleidung trug wie bei seinem Aufbruch. Das Hemd war schmutzig und zerrissen, das Gesicht aschfahl, der Bart voll kleiner Dornenzweige.
Vor vier Tagen war er mit einem Bauernmädchen davongeritten und hatte seine Männer beauftragt, ihn in einem Gasthof zu erwarten. Dort hatten sie dreieinhalb Tage lang geduldig ausgeharrt. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich der Earl so ausgiebig mit einer Gespielin amüsierte. Und so lachten und scherzten sie, tranken Ale und Whisky und genossen ihre Muße. Schließlich begannen sie sich doch Sorgen zu machen, gingen auf die Suche nach ihrem Herrn und erfuhren, er habe das Mädchen schon vor drei Tagen nach Hause gebracht. Da verständigten sie den Sheriff, der ihnen einen Suchtrupp zur Verfügung stellte. An diesem Morgen hatten sie Edward endlich gefunden. Er war vom Pferd gefallen und hatte drei Tage lang im Delirium gelegen. Zunächst glaubten sie, sein Genick wäre gebrochen. Doch sie irrten sich. Auf dem Heimweg war er für einen Augenblick zur Besinnung gekommen. Dann hatte er erneut das Bewusstsein verloren, und jetzt sah er aus wie eine Leiche. Die Diener erklärten der Countess, vermutlich habe er sich bei seinem Sturz den Schädel angeschlagen.
»Wann ist es geschehen?«, fragte sie leise. Sie glaubte ihnen nicht, als sie behaupteten, an diesem Morgen. Das Blut in seinem Gesicht musste schon vor Tagen verkrustet sein.
Bald danach traf der Arzt ein, aber sie konnte ihm nichts Konkretes mitteilen. Die Dienstboten führten ihn beiseite und berichteten, was sich tatsächlich ereignet hatte. An solche Zwischenfälle war der Doktor gewöhnt. Die Countess brauchte nicht zu wissen, wo ihr Mann gewesen war und was er getan hatte. Nun musste er mit Blutegeln zur Ader gelassen werden, alles Weitere würde man abwarten. Er war ein gesunder, kräftiger Mann, und so glaubte der Arzt, sein Patient würde den Unfall überleben.
Während des Aderlasses stand Sarah pflichtbewusst neben dem Bett ihres Mannes, der sich nach wie vor nicht rührte. Ihr graute vor den Blutegeln, und als sich der Arzt verabschiedete, sah sie fast genauso elend aus wie Edward. Sie setzte sich an den Schreibtisch und schrieb an Haversham. Nun musste er wissen, was geschehen war. Falls der Earl in der Nacht sterben sollte, musste sein Bruder bei ihm sein.
Nachdem sie den Brief versiegelt hatte, übergab sie ihn einem Boten. Der Ritt zu Havershams Haus würde eine Stunde dauern. Also müsste er im Lauf der Nacht eintreffen. Sarah setzte sich wieder neben das Bett ihres Mannes, betrachtete ihn und versuchte zu verstehen, was sie fühlte. Weder Zorn noch Hass, nur Gleichgültigkeit und Angst und Abscheu. Sie entsann sich nicht, ob sie ihn jemals geliebt hatte. Wenn ja, musste es eine kurzfristige Verirrung gewesen sein, ein törichter Selbstbetrug. Jetzt empfand sie nichts für ihn. Und ein Teil ihres Herzens besiegte das Gewissen und wünschte seinen Tod vor dem nächsten Morgen. Sie würde es nicht ertragen, noch länger mit ihm zu leben, seine intime Berührung zu erdulden, die schmerzhaften Schläge. Den Tod würde sie einer weiteren Schwangerschaft vorziehen. Aber wenn Edward am Leben blieb, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis er wieder über sie herfallen würde.
Kurz vor Mitternacht kam ihre Zofe Margaret ins Schlafzimmer des Earls, um zu fragen, ob sie ihr etwas bringen könnte. Sie war ein nettes Mädchen, erst sechzehn - so alt war Sarah bei ihrer Hochzeit gewesen. Der Herrin treu ergeben, hatte Margaret ihr beim Tod des letzten Babys beigestanden. Sie wollte ihr auch jetzt unbedingt helfen. Für ihre geliebte Countess würde sie alles tun. Aber Sarah schickte sie mit einem sanften Lächeln ins Bett. Während Edwards
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