Die Erscheinung
Kammerdiener bei seinem Herrn Wache hielt, saß sie im Salon und wartete auf Haversham.
Erst um zwei Uhr morgens traf er ein. Seine Frau war krank, zwei Töchter hatten sie mit Masern angesteckt, nun waren alle drei mit juckenden roten Flecken übersät und husteten erbärmlich. Nur widerstrebend hatte er seine Familie allein gelassen. Doch er wusste, dass er Sarahs Brief nicht ignorieren durfte.
»Wie geht es ihm?« Mit seinen neunundzwanzig Jahren war der hoch gewachsene dunkelhaarige Haversham ein sehr attraktiver Mann. Wie immer bei seinem Anblick spürte Sarah ihren beschleunigten Puls. Aufgeregt eilte er zu ihr und ergriff ihre Hände.
»Vor ein paar Stunden wurde er mit Blutegeln zur Ader gelassen. Seit er in seinem Bett liegt, rührt er sich nicht. Zunächst dachte der Arzt, Edward hätte innere Blutungen erlitten. Aber darauf wies nichts hin, und er hat sich auch nichts gebrochen. Trotzdem glaube ich, er wird die Nacht nicht überleben.« Ihre Augen verrieten nicht, was in ihr vorging. »Und deshalb bat ich dich, hierher zu kommen.«
»Natürlich möchte ich bei dir sein.«
Dankbar sah sie zu ihm auf, dann gingen sie gemeinsam nach oben in Edwards Schlafzimmer. Wie der Kammerdiener erklärte, hatte sich der Zustand des Patienten inzwischen nicht verändert.
Etwas später setzten sie sich in den Salon. Haversham nippte an dem Glas Brandy, das der Butler ihm serviert hatte, und meinte, Edward würde mehr tot als lebendig aussehen und man müsse wohl das Schlimmste befürchten. »Wann ist es passiert?«, fragte er sorgenvoll. Wenn Edward starb, kam eine große Verantwortung auf seinen Halbbruder zu. Damit hatte Haversham nie gerechnet und stets geglaubt, eines Tages würde Sarah doch noch einen Sohn zur Welt bringen.
»Angeblich heute Morgen«, erwiderte sie in ruhigem Ton. Nicht zum ersten Mal erkannte er, wie stark sie war - stärker und mutiger als die meisten Männer. Sogar er selbst konnte sich nicht mit ihr messen. »Aber die Dienstboten lügen. Irgendetwas Besonderes muss geschehen sein. Aber vielleicht ist es nicht so wichtig. Jedenfalls ändert es nichts an seinem Zustand.«
Verzweifelt wünschte Haversham, er könnte sie in die Arme nehmen. Stattdessen stellte er sein Glas ab, neigte sich vor und ergriff ihre Hand. »Wenn ihm - etwas zustößt, was wirst du tun?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich werde ich wieder leben - und atmen.« Sie lächelte schwach. »Und irgendwo in aller Stille mein Leben beenden.« Falls Edward ihr etwas Geld hinterließ, würde sie ein kleines Haus mieten oder vielleicht sogar eine Farm und endlich inneren Frieden finden. Mehr wünschte sie sich nicht. Ihre Hoffnungen und Träume hatte er längst zerstört.
»Würdest du mit mir fortgehen?«
Entsetzt starrte sie ihn an. Hatte sie ihm nicht verboten, jemals wieder über solche Dinge zu sprechen? »Mach dich nicht lächerlich!«, tadelte sie sanft. »Du bist verheiratet und hast vier Töchter. Wie kannst du deine Familie im Stich lassen und mit mir durchbrennen?« Genau das war sein sehnlichster Wunsch. Alice bedeutete ihm nichts. Und er hatte sie nur geheiratet, weil Sarah unerreichbar gewesen war. Aber jetzt - wenn Edward starb …»Daran darfst du nicht einmal denken«, fuhr sie in entschiedenem Ton fort. Immerhin war sie eine ehrbare Frau. Obwohl sie Haversham liebte, zürnte sie ihm, weil er sich wie ein unreifer Schuljunge benahm.
»Und wenn er am Leben bleibt?«, flüsterte er.
»Dann werde ich hier sterben.« Je eher, desto besser, dachte sie seufzend.
»Das lasse ich nicht zu, Sarah. Ich ertrage es nicht länger. Soll ich tatenlos mit ansehen, wie er dich langsam, aber sicher umbringt? O Gott, wie ich ihn hasse!« Edward hatte stets sein Bestes getan, um ihm das Leben zur Hölle zu machen. Fünfundzwanzig Jahre jünger als der Halbbruder, entstammte Haversham der zweiten Ehe seines Vaters. »Komm mit mir, Sarah!«, drängte er. Der Brandy war ihm ein wenig zu Kopf gestiegen. Seit Jahren plante er, mit Sarah zu fliehen. Doch er hatte nie den Mut aufgebracht, ihr das vorzuschlagen, weil er wusste, wie wichtig sie seine Ehe nahm. »Gehen wir nach Amerika!« Nun umklammerte er ihre Hände noch fester. »Sarah, ich flehe dich an! Dann wären wir endlich frei!«
Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie ihm gestanden, wie gern sie seiner Bitte nachgeben würde. Doch das durfte sie seiner Frau nicht antun. Und wenn Edward seinen Unfall überlebte, würde er die Flüchtlinge zweifellos aufspüren und
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