Die Erscheinung
Familie an Deck kennen gelernt. Die Jordans waren Amerikaner und stammten aus Nordwest-Ohio. Die letzten Monate hatten sie in England verbracht, um Mrs. Jordans Familie zu besuchen, und nun kehrten sie heim.
Die übrigen Passagiere waren vier Kaufleute, ein Apotheker, der sich vielleicht nützlich machen würde, ein Priester auf dem Weg zu den Heiden im Westen der Neuen Welt und ein französischer Journalist, der von einem amerikanischen Diplomaten und Erfinder namens Ben Franklin erzählte. Diesen bemerkenswerten Mann hatte er vor fünf Jahren in Paris getroffen.
Als das Schiff auf den ersten hohen Wogen schaukelte, wurde fast allen Passagieren übel. Inzwischen war die englische Küste nicht mehr zu sehen. Zu ihrer eigenen Verblüffung fühlte sich Sarah großartig. Sie stand an Deck, sog die frische Meeresluft tief in ihre Lungen, genoss den Sonnenschein und ihre Freiheit. In ihrer freudigen Erregung glaubte sie beinahe, sie könnte fliegen. Schließlich ging sie wieder unter Deck, begegnete Mrs. Jordan, die gerade mit Hannah aus ihrer Kabine kam, und überlegte, wie sich drei Personen in dem winzigen Raum zurechtfinden mochten.
»Guten Tag, Miss«, grüßte Mrs. Jordan und senkte verlegen den Blick. Vor wenigen Minuten hatte sie mit ihrem Mann besprochen, wie ungewöhnlich es sei, dass sich die junge Frau ohne Begleitung an Bord aufhielt. Sarah erriet, was die Amerikanerin dachte. Nun musste sie wohl oder übel eine Erklärung abgeben. Da sich ihre Zofe geweigert hatte, mit ihr zu fahren, würden ihr auch in Boston einige Unannehmlichkeiten drohen. Sogar in der fortschrittlichen Neuen Welt rümpfte man über Frauen, die allein reisten, die Nase.
»Hallo, Hannah!« Sarah lächelte das kleine Mädchen an, das ebenso wie die Mutter etwas blass war. Vermutlich litten beide an der Seekrankheit. »Geht's dir gut?«
»Nicht besonders«, erwiderte die Fünfjährige und knickste höflich.
»Wenn Sie mal mit Ihrem Mann allein sein möchten, nehme ich Ihre Tochter gern zu mir, Mrs. Jordan«, erbot sich Sarah. »In meiner Kabine gibt's eine zweite Koje. Leider habe ich keine Kinder. Darauf hofften mein verstorbener Mann und ich vergeblich.«
»Also sind Sie verwitwet«, stellte Martha Jordan sichtlich erleichtert fest. Trotzdem sollte die Dame nicht allein reisen. Aber dank ihres Witwenstandes war das nicht ganz so unschicklich.
»Seit kurzem.« Sarah senkte den Kopf und wünschte, sie würde die Wahrheit sagen. »Eigentlich sollte mich meine Nichte nach Boston begleiten.« Sie nahm an, dass Mrs. Jordan die schluchzende Margaret am Kai gesehen hatte. »Aber sie fürchtete sich ganz schrecklich vor der Reise, und ich wollte sie nicht dazu zwingen - obwohl ich ihren Eltern versprochen hatte, sie mitzunehmen. Natürlich befinde ich mich dadurch in einer sehr unangenehmen Lage«, fügte sie zerknirscht hinzu.
»Oh, Sie Ärmste!«, rief Martha Jordan voller Mitleid. »Noch dazu, wo Sie eben erst Witwe geworden sind … Wenn wir Ihnen irgendwie helfen können, geben Sie uns bitte Bescheid. Vielleicht wollen Sie uns in Ohio besuchen.«
»Danke, Sie sind sehr freundlich«, erwiderte Sarah und ging in ihre Kabine. Diese Einladung würde sie wohl kaum annehmen. Da sie einen schwarzen Seidenhut und ein schwarzes Wollkleid trug, wirkte ihre Geschichte glaubwürdig, wenn sie auch nicht wie eine trauernde Witwe aussah. Sie fürchtete sogar, ihre Augen würden vor Glück strahlen.
In den ersten Tagen verlief die Reise ohne unerfreuliche Zwischenfälle. Die Besatzung hatte Schweine und Schafe an Bord gebracht, die der Reihe nach geschlachtet werden sollten, und der Schiffskoch gab sich große Mühe mit den Mahlzeiten. Aber Sarah hörte die Seeleute jede Nacht lärmen, und Seth Jordan erklärte ihr, sie würden sich allabendlich mit Rum betrinken. Deshalb verlangte er energisch, sie müsse nach dem Dinner in der Kabine bleiben, ebenso wie seine Frau.
Die Kaufleute standen täglich an Deck und schwatzten. Trotz der Seekrankheit, die manche Passagiere zu den merkwürdigsten Zeiten befiel, schienen alle in guter Stimmung zu sein. Captain MacCormack unterhielt sich sehr oft mit ihnen. Wie er Sarah erzählt hatte, stammte er aus Wales und bedauerte, dass er seine Frau und seine zehn Kinder, die auf der Isle of Wight lebten, so selten sah. Insgeheim bewunderte er Sarahs Schönheit. Wenn sie an der Reling stand und aufs Meer blickte oder in einer ruhigen Ecke saß und ihr Tagebuch führte, fiel es ihm schwer, sich auf seine Pflichten zu
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