Die Erscheinung
Tage gedauert, bis die Schwellung ihrer Unterlippe zurückgegangen war. Selbst wenn sie nach der brutalen Vergewaltigung mit einer Schwangerschaft rechnen musste -nichts würde sie daran hindern, dem Scheusal zu entrinnen, das sie so lange gequält hatte. »Nimm die Pferde mit nach Hause, Margaret.« Ursprünglich hatte sie geplant, die Tiere in den Mietstall von Falmouth zu bringen und verkaufen zu lassen. Das war jetzt nicht mehr nötig. »Wenn du nach mir gefragt wirst, musst du stark und tapfer sein. Sag einfach, du wärst eine Weile mit mir geritten, und dann hätte ich beschlossen, zu Fuß nach London zu gehen. Das wird die Suchtrupps vorerst beschäftigen.« Armer Haversham, dachte Sarah. Sicher würde Edward ihn zur Rechenschaft ziehen. Doch die tatsächliche Unschuld des jungen Mannes war sein bester Schutz. Und sobald sie in der Neuen Welt gelandet war, konnte Edward ihr nichts mehr anhaben. Vielleicht würde er die Ehe annullieren lassen. Das wäre ihr gleichgültig. Sie wollte nichts vom Earl of Balfour. Eine Zeit lang würde sie vom Erlös der Juwelen leben und danach die Stelle einer Gouvernante oder Gesellschaftsdame annehmen. Sie würde die Arbeit nicht scheuen - ein geringer Preis für das kostbare Gut ihrer Freiheit.
In Tränen aufgelöst, verabschiedete sich Margaret von Ihrer Ladyschaft, dann ging Sarah an Bord der kleinen Brigg. Auf Deck traf sie mehrere andere Passagiere. Als das Schiff noch vor dem Morgengrauen auslief, stand sie an der Reling und winkte ihrer weinenden Zofe zu.
»Viel Glück!«, schrie Margaret in den Morgenwind.
Aber ihre Herrin hörte den Ruf nicht. Langsam drehte das Schiff und verließ die englische Küste. In maßloser Erleichterung lächelte Sarah, schloss die Augen und dankte dem Allmächtigen, der ihr ein neues Leben schenkte.
Um vier Uhr morgens schloss Charlie das Tagebuch und starrte nachdenklich vor sich hin. Was für eine außergewöhnliche Frau war Sarah Ferguson gewesen - wie viel Mut musste sie aufgebracht haben, um in jenen unruhigen Zeiten ihren Mann zu verlassen und auf einem winzigen Schiff ohne Begleitung nach Boston zu segeln … Ihrem Bericht entnahm er, dass sie in der Neuen Welt niemanden gekannt hatte. Was sie über ihren Ehemann berichtete, jagte einen kalten Schauer über seinen Rücken, und er wünschte, er hätte am Ende des 18. Jahrhunderts gelebt und ihr beigestanden.
Als er in ihr Zimmer hinaufging, hatte er das Gefühl, ein kostbares Geheimnis mit ihr zu teilen, und er sehnte sich nach einem Wiedersehen. Jetzt wusste er viel mehr über sie. Wie die Fahrt über den Atlantik verlaufen war, konnte er sich kaum vorstellen. Am liebsten hätte er die nächsten Aufzeichnungen sofort gelesen. Doch er brauchte seinen Schlaf.
Wenig später lag er in seinem Bett und hoffte, die Seide ihrer Röcke rascheln zu hören. Welch ein glücklicher Zufall, dass er die Tagebücher entdeckt hatte … Oder war er gar nicht von einer Ratte auf den Dachboden gelockt worden? Hatte Sarah ihn hinaufgeführt und veranlasst, die Truhe zu finden?
10
Am Morgen schneite es immer noch. Als Charlie erwachte, dachte er an die Angaben, die er seinem Anwalt nach London faxen müsste. Außerdem sollte er einige Telefongespräche mit New York führen. Aber er kannte nur einen einzigen Gedanken - Sarahs Tagebücher, die eine fast hypnotische Wirkung auf ihn ausübten. Irgendwann würde er sie seiner Freundin Gladys zeigen. Aber jetzt noch nicht. Erst wenn er die Lektüre des letzten Buchs beendet hatte. Bis dahin wollte er die kostbaren Aufzeichnungen der Countess mit niemandem teilen.
Hastig duschte er und zog sich an, dann trank er eine Tasse Kaffee, öffnete den Lederband, den er letzte Nacht beiseite gelegt hatte, und las die Schilderung der Schiffsreise.
Im Zwischendeck der kleinen Brigg
Concord
lagen vier Kabinen für zwölf Personen, die zur Neuen Welt segelten. Während sich der fünf Jahre alte Zweimaster von Falmouth entfernte, ging Sarah nach unten und inspizierte die Kabine, die sie mit Margaret hätte bewohnen sollen. Etwas unbehaglich sah sie sich in dem knapp zwei Meter langen und anderthalb Meter breiten Raum um und musterte die beiden schmalen Kojen. Über jeder hingen Stricke, mit denen man bei starkem Wellengang festgebunden wurde.
Da Sarah eine der beiden einzigen weiblichen Passagiere war, brauchte sie ihre Kabine mit niemandem zu teilen. Die andere Frau reiste mit ihrem Mann und ihrer fünfjährigen Tochter Hannah. Kurz nach der Abfahrt hatte Sarah die
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