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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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Beispiel.
    Schildkröten.
    Schildkröten!
    Mein Dad sagte, er habe in London ein Konzert besucht, wo die »Ode an die Freude« so langsam gespielt wurde, dass es einen lieben langen Tag dauerte. Ode an die Zeitlupe. Das entspricht in etwa dem Tempo einer Schildkröte, sagte er.
    Und wie hat sich das angehört.
    Wie ein rotierender Planet.
    Kurz: Wedge konnte mit seinen Zwei-Zentimeter-Beinchen zwanzig Kilometer täglich laufen. Er war topfit. Herrgott, er konnte eine Glühbirne zum Glühen bringen.
    Und Onkel Thoby fütterte ihn mit Lakritzen, die angeblich besondere Anti-Aging-Eigenschaften besaßen.
    Und ich knuddelte ihn.
    Bald wurde mir eines klar: Je niedriger die HF, desto länger kann man seinen LHS hinauszögern. Das Komische ist nur: Immer wenn ich über meinen LHS oder den LHS eines lieben und geliebten Menschen nachdachte, schnellte meine HF in die Höhe.
    Mein Dad wollte wissen, wo ich diese Abkürzung aufgeschnappt hätte.
    Keine Ahnung. Hab ich mir ausgedacht.
    Er sagte: Angenommen, dein LHS ließe sich unendlich hinauszögern.
     
    Verlaine sagt, Dr. O’Leery habe Mäuse genug, und wenn er Nachschub brauche, müsse er sie, Verlaine, nur fragen, warum also sollte er Wedge gestohlen haben.
    Um sich an meinem Dad zu rächen.
    Sie starrt mich ungläubig an. Aus Rache. An einem Toten.
    Weil er seinetwegen ein verlängertes Sabbatical einlegen musste.
    Ach komm, Audray.
    Kommen. Wohin.
    Sie sagt, ich sei nicht ganz dicht.
    Ich sehe an mir herunter. Tropfe ich.
    Du weißt genau, was ich meine. Sie sagt: Du glaubst doch nicht im Ernst. Und hält mitten im Satz inne. Macht eine wegwerfende Handbewegung. Als sei sie mit ihrem Latein am Ende. Als sei das nicht ihr Problem. Sie bringt meinen Becher in die Küche. Du hast deinen Tee nicht getrunken, sagt sie.
    Ich habe empfindliche Zähne.
    Sie kommt wieder und bleibt in der Tür stehen. Sie verschränkt die Arme über PSYCHONEUROENDOKRINOLO-GIE. Sie sagt, ich sähe das Laub vor lauter Blättern nicht.
    Was.
    Ihre Worte gehen auf Zehenspitzen. Sie zögert. Ich hatte großen Respekt vor deinem Vater.
    Ich nicke.
    Aber der Tod ist nun mal nicht évitable , französelt sie. Und seiner Tochter das Gegenteil vorzugaukeln, ist in meinen Augen eine Form der Grausamkeit.
     
    D iesen Fehdehandschuh hob ich nicht auf. Sie schloss die Augen länger als ein Blinzeln, was normalerweise darauf hindeutet, dass jemand in sich geht und bereut, was er gesagt hat. Je nun. Gehe in dich und bereue, Verlaine. Ich faltete meine Liste zusammen und ging.
    Audray.
    Ich ging ohne ein Wort. Gewissermaßen hob ich den Fehdehandschuh also doch auf. Und lief mit ihm davon, so schnell ich konnte.
     
    Am Flughafen wimmelt es von Weihnachtsurlaubern. Es kommen mehr Flüge an, als selbst der weiseste Einweiser bewältigen könnte.
    Miss, Abholer warten bitte außerhalb des Ankunftsbereichs.
    Sagt ein Mann, der zwar nicht direkt Uniform, aber doch immerhin ein Namensschildchen an der Krawatte trägt.
    Abholer.
    Sie holen doch jemanden ab.
    Das will ich hoffen.
    Wie auch immer, bitte treten Sie zurück. Da drinnen herrscht das nackte Chaos.
    Natürlich.
    Doch als die Schiebetür das nächste Mal aufgeht, schiebe ich mich unauffällig hindurch. Wo ist das Karussell. Ich dachte, ich warte am Gepäckkarussell, nur für den Fall, dass tatsächlich jemand kommt. Aber es ist verschwunden. Das gute alte Karussell-Karussell ist verschwunden, und an seiner Stelle steht ein flaches Transportband, das etwa so aussieht,

mit einer Klappe an jedem Ende. Ich gehe neben einer Tasche her, an der ein grüner Anhänger mit der Aufschrift DU SIEHST NICHT AUS WIE MEIN BESITZER befestigt ist. Das versetzt mir einen kleinen Stich. Ich schlendere weiter zur Rolltreppe, wo sich eine kleine Menschenmenge versammelt hat. Ich bin anscheinend nicht der einzige übereifrige Abholer. Hier stehen sie mit ihren Rentiergeweihen und Weihnachtsspruchbändern. Zugegeben, nur ein paar tragen Geweihe. Und niemand schwenkt ein Spruchband. Aber die Stimmung ist entsprechend. Festlich. Es ist Weihnachten, und ihre Freunde und Verwandten kommen nach Hause.
    Ich lehne am Tresen der Firma Hertz. Auch das ist neu. Die vielen Mietwagenstände. Ich stibitze eine Zuckerstange vom Tresen.
    Möchten Sie einen Wagen.
    Nein, danke. Ich habe schon einen. Einen braunen LeBaron. Mit Schaltgetriebe. Ich bin Abholer.
    Abholer haben hier eigentlich nichts verloren.
    Ja, ich weiß, aber es handelt sich um einen Notfall.
    Oh. Na, dann will ich nicht weiter

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