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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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lebten wir auf einer Insel. Sie endete kurz vor dem Flughafen. Wenn Jim Ryan tatsächlich zum Flughafen wollte, brauchte ich mit dem Rad nur über die Rollbahn zu fahren, und schon war ich beim Stall.
    Allmählich taten mir die Hände weh. Ich dachte daran, wie Onkel Thoby die Einfahrt entlanggestolpert war. Wie er Nicht gerufen hatte. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Ich ging in Crashhaltung. Die sich von der aerodynamischen Haltung übrigens nur unwesentlich unterscheidet.
    Links überholte uns ein Pick-up Truck, und ein Junge schrie: Lass los, du Schwachkopf.
    Ich hasste ihn.
    Ich hasste Jim Ryan.
    Auf dem Blackbog Drive gab es keine Ampeln. Wir fuhren und fuhren. Und hielten nicht ein einziges Mal an. Ich hätte beim besten Willen nicht loslassen können. Nicht zuletzt, weil ich erbärmlich fror. Wann war es eigentlich so kalt geworden. Meine Hand klebte an der Stoßstange fest. Mir liefen die Tränen.
    Plötzlich hörte ich ein vertrautes, langgezogenes Hupen. Dieses Hupen kannte ich doch. Ich wandte den Kopf. Und was sah ich. Onkel Thoby in unserem kleinen braunen LeBaron! Mit offenen Fenstern. Und grotesk verzerrter Miene. Anhalten. Anhalten.
    Da schaute Jim Ryan zum ersten Mal in den Rückspiegel. Das hatte er sich vermutlich abgewöhnt, seit er vorwärts aus seinem Hörnchen fahren konnte. Rückspiegel waren nur etwas für Menschen ohne Hörnchen.
    Er stieg so heftig auf die Bremse, dass der Wagen nach rechts ausscherte, was erstens ziemlich unvernünftig war und zweitens ohne Weiteres zu einem Unfall hätte führen können.
    Extravehikuläre Ablenkung. In Form meiner Wenigkeit. Ich hob ab. Und flog mit meinem Fahrrad in hohem Bogen durch die Luft. Dann plötzlich war das Rad verschwunden. Und ich flog solo weiter. Platsch, landete ich zwischen Straße und Trottoir. Nicht in der Gosse. Oder doch. Doch in der Gosse. Das passte. Wie angegossen. Ich landete mit dem Gesicht voran. Einen Augenblick lang war alles mollig still und warm. Und raten Sie mal, was mein Gesicht vor Schlimmerem bewahrte. Mein schwarzer Schirm. Mein Helm. Links war der schwarze Samt gerissen. Ich hatte gehört oder vielmehr gespürt, wie er gerissen war.
    Nach einer Weile hörte ich jemanden fluchen. Jim Ryan auf dem Gehsteig. Ich wurde auf den Rücken gedreht. Onkel Thoby betastete meine Beine. Autos bremsten. Mir war kalt, obwohl die Sonne schien. Im ersten Moment wusste ich nicht, welche Jahreszeit wir hatten. Haben wir Sommer.
    Spürst du das.
    Ich nickte.
    Und das.
    Ich bin vom Rad gefallen. Wo ist mein Rad.
    Onkel Thoby dachte, ich sei gelähmt. Aber ich war nur ganz wacklig auf den Beinen, wie jemand, der gerade einen Geschwindigkeitsweltrekord gebrochen hat.
     
    Onkel Thoby kroch, immer hart am Seitenstreifen entlang, über den Blackbog Drive und sagte: So war das mit dem Verreisen aber nicht gemeint.
    Ich: Ich weiß.
    Onkel Thoby: Gegen Abenteuer ist prinzipiell nichts einzuwenden, aber es kann nicht schaden, wenn man sie wohlbehalten übersteht.
    Ich: Ich weiß.
    Onkel Thoby wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab.
    Ich: Warum fahren wir eigentlich so langsam.
    Er: Tun wir gar nicht. Du bist bloß tempogeschädigt.
    Ich, nach einer kurzen Pause: Ich will nicht, dass du weggehst.
    Er: Ich habe nicht die Absicht wegzugehen.
    Ich: Nie wieder.
    Er: Nein.
    Ich: Wie, nein.
    Er: Nein, ich gehe nie wieder weg.
    Ich: Indianerehrenwort.
    Er: Ja.
    Ich: Und du willst wirklich keine großen wohlbehaltenen Abenteuer in U-Bahnen mehr bestehen.
    Er: Das hier ist mein großes wohlbehaltenes Abenteuer.
    Ich: Was, das.
    Er: Du. Dein Dad. Das alles.
     
    V erlaine macht mir die Tür auf. Ihre Haare sehen aus wie eine gezackte Klinge. Was ist denn mit deinem Gesicht passiert.
    Meinst du die Schramme am Kinn oder das Gerstenkorn.
    Du siehst aus wie der ehemalige russische Präsident.
    Ach ja. Der Bluterguss an der Stirn. Das ist noch gar nichts. Meine Zähne fühlen sich an, als hätte sie mir jemand noch ein Stückchen tiefer in den Kiefer gerammt. Ich bin die Treppe runtergefallen.
    Sie wirkt nicht sonderlich erstaunt und bietet mir eine Tasse Tee an.
    In Verlaines Wohnzimmer ist es kalt und zugig. Es hat ein Fenster, das in vierundfünfzig Karos unterteilt ist. Mit zwei Flügeln, wie ein aufgeschlagenes Buch. Es gibt keine Weihnachtsdekoration im eigentlichen Sinne. Verlaines Vorstellung von Weihnachtsdekoration scheint sich darin zu erschöpfen, dass sie den Pferden, die ohnehin jeden freien Zentimeter mit Hufbeschlag belegen, kleine

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