Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Und geh sie vormittags besuchen.
Warum.
Weil sie vormittags bei klarem Verstand ist.
Er meinte, ich sei wahnsinnig, in einem Atomotel meilenweit vor der Stadt zu übernachten. Das Taxi sei ja teurer als das Zimmer.
Ich bin eine treue Atomotel-Kundin, sagte ich. Und danke für das Angebot.
Angebot, sagte er.
Im Schein der Innenraumbeleuchtung des Taxis, das Toff mir spendiert hat, überfliege ich den Artikel über Leonel de Tigrel. Vom Autofahren wird mir langsam, aber sicher schlecht. Meine Ermittlungen führen zu nichts. Dem Artikel zufolge will Leonel de Tigrel in spätestens zehn Jahren eine Heilmethode gegen das Altern entwickelt haben. Zehn Jahre! Mein Dad hatte diese Heilmethode längst. Warum also steht in dieser Zeitschrift – wie heißt sie noch gleich: Hourglass – kein Wort über meinen Dad. Warum hatte 60 Minutes meinen Dad nicht um ein Interview gebeten, wie vor ein paar Wochen Leonel de Tigrel.
Und warum habe ich Leonel de Tigrels Gesicht noch nie gesehen, wo er doch anscheinend allgegenwärtig ist. Mangelhafte Recherche. Typisch. Na ja, was soll’s. Leonel de Tigrel hat Wedge also nicht entführt. Jedenfalls nicht eigenhändig. Aber da er so berühmt ist, könnte er ohne Weiteres einen Helfershelfer beauftragt haben. Den Belgier. Er könnte den Belgier beauftragt haben, Wedge zu entführen. Weil Wedge so alt ist und doch so jung. Und weil Walter Flowers eine ehrliche Haut ist und Leonel de Tigrel ein Schwindler, der meinen Dad zeitlebens um seinen Erfolg beneidet hat.
Ich nicke vor mich hin und schaue aus dem Fenster, um das flaue Gefühl im Magen zu bekämpfen.
Und ist es nicht seltsam, dass Toff aschfahl wurde, als ich ihm eröffnete, dass ich nach Cambridge fahren wolle, um den Löwen persönlich zu befragen.
Atomotel ist eine Kette. Cliff und ich haben in den Alpen in einem Atomotel gewohnt. Atomotels sind relativ preiswert, weil die Zimmer so winzig sind. Manche haben sogar Etagenbetten. Alles ist sauber und weiß. Ich habe mein Zimmer mit der Kreditkarte von meinem Dad gebucht. Ohne Probleme. Oder gar lästige Fragen. Willkommen, Nukleus, sagte der Empfangschef beim Einchecken. Denn so lautet das Motto von Atomotel: Der Kunde ist der Nukleus! Griffiger Slogan.
Im Fahrstuhl sagte eine Computerstimme die Stockwerke an, für Blinde und Leute mit verbundenen Augen. Im zehnten Stock stieg ich aus. Zimmer 1006.
Mein Atom hat kein Etagenbett. Pech. Es hat ein kleines, wie ein Elektron geformtes Bett mit weißer Decke. Das Kissen ist zu einer Pyramide aufgeschlagen. Interessant.
Ich rufe zu Hause an. Zwei Nachrichten. Eine von Linda. Sie sagt, Cliff sei dagewesen und habe Winnifred mitgenommen. Was mir hoffentlich recht sei. Die beiden seien nämlich schon weg. Wahrscheinlich zurück in die alte Wohnung.
Moment mal. Was. Nachricht wiederholen.
Tja. Hast du sie nicht genau deshalb dort gelassen. Damit sie da ist, falls Cliff zurückkommt. Damit überhaupt jemand da ist. Hast du ihn nicht quasi aufgefordert, sie zu holen. Ja, aber damals dachte ich auch noch, dass ich zurückgehen würde.
Und das willst du jetzt nicht mehr.
Nein.
Das ist ja ganz was Neues. Ich gehe nicht zurück nach Portland.
Die zweite Nachricht ist von Judd. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht, dass jemand zärtlich an dich denkt. Und deinen Flug online verfolgt. He, du bist gerade über Irland.
Ich schalte das Licht aus und steige ins Bett. Versetze der Pyramide einen kräftigen Knuff. Bette mein Haupt. Cliff ist also wieder da. Wohlbehalten in der alten Wohnung. Mit Winnie. Und ich gehe nicht zurück.
Ich bin erschöpft und voller Schrammen. Mein Auge pocht. So ähnlich habe ich mich auch gefühlt, als ich das letzte Mal in einem Atomotel übernachtet habe, nach einem Tag »Skifahren« in den Alpen. Ich weiß nicht, wie oft ich damals hingefallen bin.
Das Etagenbett in unserem Zimmer war ein Novum. Ich lernte ein paar interessante Sextricks. Zum Beispiel wie man sich möglichst elegant an der Zimmerdecke abstützt.
Wir gingen essen, und ich erinnere mich vor allem an Cliffs dampfenden Drink und wie der Dampf über den Glasrand quoll, während er mir Geschichten über Oregon erzählte. Oregon mit seinen Alice-im-Wunderland-Wäldern, seinen Hochwüsten und Mittelgebirgen, in denen lauwarmer Regen fällt. Später dann, im Etagenbett, fragte er: Würdest du Nein sagen, wenn ich dich bitten würde, mit mir nach Amerika zurückzugehen.
Dazu würde ich nicht Nein sagen, nein.
Heute würde ich dazu Nein
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