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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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gealtert. Aber natürlich ist sie gealtert. Ihre Haare sind stumpf und dünn geworden. Sie hat sie mit diesen komischen Kämmen nach hinten gesteckt, die einem die Kopfhaut zerkratzen. Aber sie scheint noch genauso groß zu sein wie früher. Wenn sie aufstehen würde, könnte sie der Säule glatt Paroli bieten.
    Ich brauche Licht zum Sehen, sagt sie. Komm ein wenig näher.
    Ich beuge mich vor. Ihre Augen blitzen. Wie die eines Nachttiers. Tapetum lucidum nennt man das. Wenn die Netzhäute das Licht reflektieren. Ihre Netzhäute schillern wie Perlmutt.
    Du hast dich gar nicht verändert, sagt sie.
    Sie ist anscheinend wirklich blind, denn mein Gesicht sieht aus wie ein Schlachtfeld.
    Hilly bringt ein Tablett mit Tee und Keksen. Ich erinnere mich dunkel an die Kekse aus dem Cluedospielbretthaus. Staubtrocken. Hilly führt Großmuters Hand zu ihrer Tasse. Ja, ich hab sie, sagt sie.
    Was macht dein Arm.
    Was soll er schon groß machen. Er ist schließlich gebrochen.
    Aber sonst geht es dir gut.
    Sie macht ein grimmiges Gesicht.
    Ich entferne Keksreste aus meinen Backenzähnen. Wir sitzen uns schweigend gegenüber. Ich sage, die Säule sei sehr schön. Was für Muskeln.
    Abscheulich. Zum Glück bin ich blind.
    Na, das kann ja heiter werden.
    Das nennt man eine Karyatide, sagt sie nach einer kurzen Pause.
    Was.
    Die Säule.
    Ach. Tide ist vermutlich ein anderes Wort für Zimmerdecke. Daher der Ausdruck Tidenhub . Interessant. Was hältst du davon, wenn ich deinen Gipsarm signiere. In Kanada signieren wir Gipsarme.
    Ich will meinen Arm aber nicht signieren lassen.
    Unsinn. Ich sehe mich nach einem Stift um.
    Stimmt es, was ich über deinen Vater gehört habe, Audrey.
    Ich erstarre. Was hast du denn gehört.
    Dass er von einem Auto angefahren worden ist.
    Ja, stimmt.
    Ich bin auch von einem Auto angefahren worden. Komisch, nicht wahr. Sie nippt an ihrem Tee.
    Hilly, die Servietten gebracht hat, sagt: Sie sind vom Bordstein gegen ein parkendes Auto gefallen.
    Das kommt in den besten Familien vor, sage ich. Haben Sie vielleicht einen Kuli, Hilly. Oder einen Filzstift.
    Sie nickt.
    Glaub ihr kein Wort, flüstert Großmutter dem Fenster zu. Sie ist eine notorische Lügnerin.
    Aber eine gute Pflegerin, hoffe ich.
    Wieder zieht Großmutter eine Grimasse.
    Ich habe mir vorgenommen, Onkel Thoby möglichst beiläufig zu erwähnen. Etwa so: Und, hat Onkel Thoby dich besucht. Danke, Hilly. Gib mir mal deinen Arm.
    Erst wehrt sie sich. Dann gibt sie nach.
    Wer, fragt sie.
    Thoby.
    Ach. Ja.
    Wann.
    Keine Ahnung. Gestern. Vorgestern. Was weiß ich.
    Wo wollte er hin. Hat er gesagt, wo er hinwollte.
    Nach Hause, glaube ich.
    Ich lehne mich zurück. Nach Hause.
    Wenn mich nicht alles täuscht.
    Womöglich haben sich unsere Wege über dem Atlantik gekreuzt. Ich stelle mir vor, dass wir beide dieselbe Sherlock-Holmes- Folge sehen, »Die tanzenden Männchen«, nur dass seine Folge rückwärtsläuft, weil er ja nach Hause fliegt.
    Ob er schon wieder zu Hause ist und gerade zu einem kräftigen Nordwestschubs ansetzt, als er merkt, dass sich die Tür nicht öffnen lässt. Wo ist Oddly. Oddly ist in London, um Nachforschungen anzustellen, um jemanden zu retten, aber sie ist leider ein klitzekleines bisschen durcheinander.
    Ich lasse Großmutters Arm sinken und sehe zur Tide hoch. Wie weiter. Was nun.
    Ging es ihm gut.
    Keine Antwort.
    Großmuter.
    Ja.
    Hattest du den Eindruck, dass es ihm gut ging.
    Wem.
    Onkel Thoby.
    Sie nickt. Dein Onkel war hier.
    Ja. Und hat gesagt, er will nach Hause.
    Tapetum-lucidum-Augen. Unergründlich.
    Ich versuche es noch einmal. War er verärgert. Oder aufgebracht.
    Sie macht eine comme-ci-comme-ça -Geste. Er wollte sich entschuldigen, sagt sie.
    Wofür. Warum.
    Lange Pause. Das muss er dir schon selber sagen, sagt sie.
    Am liebsten würde ich ihr auch den anderen Arm noch brechen.
    Audrey.
    Was.
    Ich bin müde und finde, du solltest jetzt gehen.
    Du bist meine Großmutter. Eigentlich müsstest du mich immer um dich haben wollen.
    Will ich aber nicht.
    Hast du ihm verziehen.
    Wem.
    Verdammt. Das weißt du ganz genau, sage ich.
    Bei dem Wort verdammt zuckt sie zusammen. Nein, sagt sie nach kurzem Zögern.
    Sprich du hast ihm nicht verziehen.
    Nein.
    Ich stehe auf. Lege ihr die Hand auf die Schulter.
    Au.
    Ich gehe jetzt.
    Ich liebe meine Söhne, Audrey. Alle beide.
    Als ich meinen Mantel anziehe, höre ich Hilly sagen: Sie hat Oddly auf Ihren Arm geschrieben.
     
    Ich fahre mit dem Taxi zurück ins Atomotel. Die

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