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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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er plötzlich ganz wacklig auf den Beinen. Hält sich am Treppengeländer fest.
    Immer schön senkrecht halten.
    Ich ziehe jetzt den Mantel aus.
    Gut. Ich mache mich von seinem Ärmel los. Wie hat er reagiert, frage ich.
    Wer.
    Der Vollstrecker.
    Onkel Thoby reibt sich die Stirn. Musst du ihn unbedingt so nennen.
    War er gemein zu dir.
    Nein.
    Wir wärmen die Hühnersuppe auf, die Byrne Doyle vorbeigebracht hat. Onkel Thoby steht gegen die Anrichte gelehnt und sagt: Ich glaube, ich habe Fieber. Ich auch, sage ich und rühre.
    Er sieht mich zweifelnd an. Seit wann.
    Seit du gesagt hast, du hättest welches.
    Aber das ist keine drei Sekunden her.
    Ich wusste nicht genau, was ich habe, bis du es gesagt hast, aber Fieber, ja, das muss es sein. Fühl mal. Ich lege den Kopf in den Nacken.
    Hast du seit der Orange etwas gegessen, fragt er.
    Ein bisschen WD-40.
    Er nickt und holt zwei tiefe Teller aus dem Küchenschrank, einen normalen für mich und den Fliegenteller für sich. Der Fliegenteller hat eine Fliege am Rand. Keine echte, nur gemalt.
    Der gute Byrne Doyle hat also Suppe vorbeigebracht, sagt er.
    Ich nicke. Und er hat mir geholfen, die Einfahrt freizuschaufeln, ergänze ich.
    Der Mann ist ein Heiliger.
    Ich nicke. Die ist selbstgekocht, sage ich. Das sieht man.
    Köstlich.
    Nicht zu fassen, dass jemand Suppe selber kocht.
    Der Mann schläft nie.
    Bis-in-die-Puppen-Suppe. He, auf deinem Teller sitzt eine Fliege.
    Wir sprechen unsere Familiengeheimsprache. Ich liebe unsere Familiengeheimsprache.
    Onkel Thobys Glas rutscht ein paar Zentimeter nach links. Warum ist der Tisch so glitschig, fragt er.
    Brot, frage ich zurück.
    Bitte.
    Da plötzlich sagt Onkel Thoby aus seiner Ecke: Das Telefon klingelt. Willst du nicht drangehen …
    Ich quetsche mir den Brotlaib an die Brust.
    Ich weiß, sagt Onkel Thoby und steht auf. Mir geht’s genauso. Aber dein Dad war davon ganz begeistert. Hallo.
    Es ist Toff.
    Onkel Thoby verzieht keine Miene und weicht meinem Blick beharrlich aus.
    Wenn Sie wissen wollen, wie aufrichtig jemand ist, empfehle ich Ihnen folgendes kleine Experiment. Versuchen Sie, ihm beim Telefonieren in die Augen zu schauen. Wenn er aufrichtig ist, wird er ihrem Blick ausweichen. Denn der Blickkontakt wäre ein Verrat an seinem Gesprächspartner, der ja nichts sehen kann. Das ist, als ob ein Blinder mit im Zimmer wäre. Würden Sie mit einem Sehenden Blickkontakt aufnehmen, während Sie mit einem Blinden sprechen. Nicht, wenn Sie aufrichtig sind. Nicht, wenn Sie Mr. Ehrlich sind. Wenn Sie Mr. Ehrlich sind, schauen Sie beim Telefonieren woandershin. Weil Sie sich auf die Person konzentrieren, die Sie nicht sehen können. Ein ehrlicher Mensch vermeidet ironische Blicke, wenn die anderen keine Möglichkeit haben, diese Ironie auch zu bemerken.
    Aber ist Ironie überhaupt noch Ironie, wenn jeder sie bemerkt. Gute Frage. Da kommt man doch ins Grübeln.
    Onkel Thoby verabredet sich mit Toff für den nächsten Tag zum Mittagessen. Dann dreht er sich zu mir um und sagt: Ja. Möchtest du sie sprechen. Ich schüttele den Kopf und schiebe mir einen Klumpen Brot in den Mund. Er sieht mir einen Moment lang in die Augen. Dann sagt er, offen und ehrlich: Sie kaut gerade. Das kann eine Weile dauern.
    Nachdem er aufgelegt hat und ich geschluckt habe, sage ich: Müssen wir uns unbedingt schon morgen mit ihm treffen. Können wir nicht warten.
    Wie lange.
    So lange wie möglich.
    Er sieht mich lächelnd an. Ich lächle nicht zurück. Ich lege den plattgequetschten Brotlaib auf den Tisch.
    Du scheinst keine Ahnung zu haben, was es noch alles zu regeln gibt.
    Darüber müssen wir aber jetzt nicht reden, oder.
    Nein, deshalb reden wir ja morgen beim Mittagessen darüber. Einverstanden.
    Ich nicke und lasse den Löffel in meiner Suppe verschwinden. Ob Onkel Thoby schon einmal gehört habe, wie das Wort verschwinden neuerdings gebraucht wird.
    Nämlich wie.
    Nämlich so: Kanadische Entwicklungshelfer sind im Irak verschwunden worden , sage ich. Ziemlich gruselig. Bilde einen Satz damit.
    Mir fällt aber keiner …
    Schon gut. Ich weiß einen. Mein Dad ist verschwunden worden.
    Sein Löffel hängt wie erstarrt in der Luft.
    Das ist schlimmer als Mord, sage ich. Nicht.
    Er gibt keine Antwort. Darum nicke ich für ihn.
     
    I n Zeichentrickfilmen erkennt man die Bösen immer an den Augenbrauen. Wenn die Augenbrauen auf der Stirn ein V bilden, ist Vorsicht geboten. Und wenn die Augenbrauen umgekehrt wie ein accent circonflexe ausschauen,

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