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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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unbeschreibliches Geräusch. Ich trank einen Schluck Wasser aus dem Joghurtbecher, den sie mit Kaugummi aufs Armaturenbrett geklebt hatte.
    Willst du sie dir mal anschauen, sagte sie. Aus der Nähe.
    Ich hob den Kopf.
    Sie legte den Gang ein. Sie hatte die Ärmel ihres roten T-Shirts bis zu den Schultern hochgekrempelt. Für Menschen war es ein heißer Tag gewesen, nicht so für Armaturenbrettschildkröten. Cliffs Wagen hatte keine Klimaanlage. Der Arm, den sie aus dem Fenster gehalten hatte, war verbrannt und voller Sommersprossen. Ihr Haar war feucht bis in die Spitzen. Und jetzt will sie auch noch in einen Vergnügungspark. In der vagen Hoffnung, dass er dort sein könnte. Weil es Menschen, die gern klettern und fallen, zu solchen Orten zieht: Brücken, Flughäfen, Vergnügungsparks. Klar würde Cliff an dieser Achterbahn Gefallen finden, das heißt aber noch lange nicht, dass er hier und jetzt die Gleise der hoelle unsicher macht. Nein, Audrey.
    Wir bogen vom Highway ab. Der Himmel war rosarot. Wir fuhren auf einen Parkplatz von der Größe Oregons. Statt Ziffern und Buchstaben markierten Bildtafeln mit Tieren die einzelnen Abschnitte. Wir fanden eine Lücke im Schildkrötenblock.
    Der Park war ein funkelndes Lichtermeer. Ich klemmte unter ihrem verbrannten Arm. Nicht nur die Temperatur fiel, wie es in der Wüste nachts so üblich ist, sondern auch die Menschen fielen. Aus freien Stücken. Eine Attraktion namens Tiefenkoller war nichts weiter als ein kaputter Fahrstuhl, der immer und immer wieder abzustürzen schien. Der Dreifache Bypass wiederum hatte die gleichnamige Operation bei vielen Fahrgästen vorzeitig erforderlich gemacht. So stand es jedenfalls auf einem Schild. Und dann natürlich das Nonplusultra, die Achterbahn, die wir vom Highway aus gesehen hatten und die wesentlich steiler, monströser und hoellischer aussah, als sich von fern erahnen ließ. Sie hieß Defibrillator, weil am Ausgang ein ebensolcher für Notfälle bereitstand. Ha.
    Wir standen am Fuß des Defibrillators und schauten zu, wie die Fahrgäste das h hinaufkrochen. Noch kreischten sie nicht. Aber bald, bald.
    Als sie in die Tiefe stürzten, drückte Audrey mich ganz fest an ihre Brust.
    Die Fahrt mit einer Achterbahn wie dem Defibrillator mache vor allem deshalb »Spaß«, wie sie mir später erklärte, als sie sich angeschnallt hatte und ich wohlbehalten auf dem Armaturenbrett saß, weil man sie überlebt. Überraschung: Sie haben überlebt. Das ist das Spaßige daran.
    Sie setzte den Wagen rückwärts aus unserem Schildkröten-Parkplatz. Sie hatte Gänsehaut an den Armen. Der Weltraum saugt die Hitze förmlich aus der Wüste.
    Später, auf dem Highway unter den Sternen, musste ich an meinen atemberaubenden Sturz in den Schoß eines Kindes denken und daran, wie sehr ich es dafür liebte, dass es mich aufgefangen und mir wegen des schildkrötengroßen blauen Flecks, der hernach seinen Schenkel zierte, nicht den geringsten Vorwurf gemacht hatte.
     
    D as Erste, woran ich mich bewusst erinnere, ist der Flugzeugabsturz. Ich sage Absturz , weil wir eine Zeit lang tatsächlich abzustürzen drohten. Und ich sage das Erste , weil meine Erinnerung an die Zeit vor dem Flug bestenfalls verschwommen ist, während die Zeit danach mir so hell, klar und gestochen scharf vor Augen steht, wie es das Gehirn überhaupt zulässt. Mein Gehirn jedenfalls.
    Es geschah zwischen meinem ersten und zweiten Schaltgeburtstag. Etwas näher am ersten als am zweiten. Wir kamen aus England und flogen nach Hause. Und dort oben in der Luft überschritten wir eine Grenze. Oder nein, eigentlich überschritten wir diese Grenze schon auf der Rollbahn des Flughafens Heathrow. Ja, auf der Rollbahn. Ich erinnere mich nämlich auch noch an den Start. Bei dem das Flugzeug seine Lenden gürtete, wie mein Dad zu sagen pflegte.
    Was sind Lenden.
    Er zeigte auf seinen Unterbauch.
    Die Geräusche, die das Flugzeug machte, gefielen mir nicht. Ganz und gar nicht. Gespornt, gestiefelt und gegürtet hievte es sich in den grauen Himmel.
     
    Wir waren zur Beerdigung meines Großvaters nach England geflogen. An den Hinflug habe ich so gut wie keine Erinnerung. Auch an England kann ich mich kaum entsinnen, ich weiß nur noch, dass das Haus ein Cluedo-Spielbrett auf dem Land war, in dessen Garten es riesige Bienen mit Sonnenbrillen auf der Nase gab, die aussahen wie eine Privatarmee. Es gab Männer mit Bärten, die mit mir ständig über Neufundländer (die Hunderasse) sprechen wollten.

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