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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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Mein Dad war traurig, weil sein Dad gestorben war. Ich hatte Heimweh. Das Haus kam mir vor, als ob wir jeden Augenblick darin ermordet werden könnten. Daran erinnere ich mich.
    Und davor. Kann ich meinem Gehirn vielleicht eine Erinnerung an die Zeit vor meinem ersten Geburtstag abringen. Ich entsinne mich dunkel an ein Handtuch. Ich weiß noch, wie ich aus der Badewanne stieg, mir ein Handtuch über den Kopf zog und meinen Dad fragte, ob er wisse, wie herum ich stehe. In meine Richtung, sagte er. Woher weißt du das. Ich kann deine Füße sehen, sagte er. Ich sah auf meine nackten Füße hinunter. Sie befanden sich am Ende eines langen Handtuchtunnels. Na klar. Mein Dad konnte meine Füße sehen.
    Also drehte ich mich ein paarmal um die eigene Achse (um ihn zu verwirren) und stellte meine Füße dann in die erste Position, wie Balletttänzer das nennen, Ferse an Ferse mit auswärtsgekehrten Zehen. Und wie herum stehe ich jetzt . Ach komm, Audrey, sagte mein Dad. Kommen. Wohin denn, fragte ich. Und weil mir von der Dreherei ganz schwindlig war, fiel ich vornüber und knallte mit dem Kinn auf den Badewannenrand. Mein Dad hob mich hoch und sagte: Ach, Wobbly-Wackelpudding. So nannte er mich immer, wenn ich hinfiel. Wobbly-Wackelpudding. Wobbly Flowers.
    Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen. Aber sie ist nicht vom selben Kaliber wie die Flugzeugerinnerung. Es ist, als hätte das Handtuch über meinem Kopf mich in der ersten Erinnerung vor dem Wissen um den bevorstehenden Sturz bewahrt. Während mir in der zweiten Erinnerung jemand das Handtuch vom Kopf riss und sagte: Du sollst sehen , wie du stürzt. Du sollst wissen , dass du stürzt. Ach übrigens. Es wird ein Weilchen dauern.
    Ich saß auf Platz 12A. Mein Dad auf Platz 12B. Wir saßen in der ersten Reihe, gleich hinter dem Vorhang zwischen erster und zweiter Klasse. Mir fiel auf, dass die Stewardess sich jedes Mal die Frisur richtete, bevor sie durch den Vorhang trat.
    Wir hatten keine Klapptische wie alle anderen. Unsere Tische sprossen wie Roboterarme aus unseren Armlehnen. Zuerst konnte ich meinen Roboterarm nicht finden. Ich sah in meine Armlehne, und sie war leer.
    Ich bin ohne Tisch!
    Nein, der ist hier drin, rechts, sagte mein Dad.
    Und warum geht die Armlehne dann auf, wenn gar nichts drin ist.
    Das muss ein Fehler sein.
    Mir sank das Herz in die Kniekehlen. Fast wäre ich vor lauter Schreck im Erdboden versunken. Nur dass kein Erdboden da war. Und das Flugzeug womöglich noch ganz andere Fehler hatte.
    Was soll’s. Nach einer Weile schien es, als sei meine linke Armlehne absichtlich hohl und eigens für mich gemacht. Mir gefiel, wie sich der Deckel hochklappen ließ. Mir gefiel das Rechteck aus Dunkelheit darin. Es war ein Geheimfach. Ich liebte Geheimfächer. Mit meiner Polaroid-Kamera knipste ich ein Bild von meinem Dad und steckte das Foto zum Entwickeln in die Armlehne.
    Gut jetzt, sagte er. Soll heißen: Es reicht.
    Zuvor war ich auf der Toilette gewesen und hatte auf dem Rückweg sämtliche Passagiere fotografiert, von denen viele schliefen. Es war mir ein Rätsel, wie man an Bord eines Flugzeugs schlafen konnte, denn erstens flogen wir, und zweitens verhedderte man sich dauernd mit den Armen. Ich ging auf die Toilette und fotografierte das winzige Waschbecken.
    Willst du meine Flugzeugbilder sehen, fragte ich meinen Dad.
    Die habe ich schon gesehen.
    Die Stewardess brachte uns Essenstabletts. Ich sagte, sie hätte eine schöne Frisur. Sie lächelte und sagte: Du bist aber eine süße Kleine. Vor meinem Fenster zogen die Wolken vorbei wie am Fließband.
    Die Essenstabletts hatten Fächer. Ich liebe Fächer, erklärte ich meinem Dad.
    Das hast du schon mal gesagt.
    Wenn ich dieses Tablett behalten dürfte, würde ich dazu nicht Nein sagen.
    Aber ich würde Nein sagen, sagte er. Und zwar definitiv.
    Was heißt delfinitief.
    Keine Antwort.
    Na gut. Alufolie liebe ich nämlich auch.
    Als die Stewardess vorbeikam, fragte ich: Entschuldigen Sie, aber darf ich das Tablett vielleicht behalten.
    Aber sicher, Schätzchen.
    Ich sah meinen Dad strahlend an.
    Ich aß alles auf. Mein Dad weniger. Ich wollte wissen, was er las.
    »Anstieg der Mortalitätsrate bei alternden Mus musculus ähnlich langsam wie beim Menschen.«
    Ist das eine Biografie.
    Nein.
    Ach.
    Ich sah in meine Armlehne. Leute, die lesen, kann ich auf den Tod nicht ausstehen, sagte ich.
    Mein Dad seufzte.
    Mich ausgenommen, setzte ich hinzu und zerknüllte die Alufolie zu einer

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