Die erste Todsuende
Leben, nehme ich an. Deshalb versucht sie ja so verzweifelt, sich umzubringen. Vielleicht ist ihr Problem, daß sie zu intelligent ist. Sie hat gemalt und Gedichte geschrieben. Sie war sehr gut darin, aber sie konnte es nicht ertragen, nur 'sehr gut' zu sein. Wenn sie schon nicht das Zeug zu einem Genie hatte - mit dem Zweitbesten konnte sie sich nicht zufrieden geben. Sie will immer das Beste, das Meiste, das Letzte. Ich glaube, ihr Problem besteht darin, daß sie Gewißheit haben möchte. Über etwas, irgend etwas. Sie will endgültige Antworten. Ich glaube, deshalb hat sie sich so von dir angezogen gefühlt, Liebling. Sie hat gespürt, daß du nach demselben suchst."
„Du bist so alt für dein Alter."
„Bin ich das? Ja, ich bin uralt. Ich bin schon alt auf die Welt gekommen."
Sie lachten leise, gemeinsam, und bewegten sich gemeinsam, indem sie einander hielten. Und sich dann küßten, küßten, voller Liebe, aber ohne Leidenschaft, und ihre feuchten Lippen aneinander hafteten. Blank strich über zerzaustes Haar und zeichnete mit der Fingerspitze die Windungen des zarten Ohrs nach, des schlanken Halses und der durchscheinenden Rippen unter der seidenen Haut.
Schließlich ließen sie voneinander ab, lagen Seite an Seite auf dem Rücken, die Hände ineinander verschränkt.
„Was ist mit Valenter?"
„Was soll mit ihm sein?"
„Was für eine Rolle spielt er in eurem Haus?"
„Was für eine Rolle? Er ist hier angestellt, als Hausmeister."
„Er macht einen so... unheimlichen Eindruck."
Spöttisch: „Glaubst du, er schläft mit Bruder oder Schwester? Oder mit beiden?"
„Ich weiß es nicht. Es ist ein seltsames Haus. Dieser Raum da oben."
„Niemand geht dort je hinauf. Man ist völlig ungestört. Er ist schäbig, ich weiß, aber es hat doch Spaß gemacht, oder? Findest du nicht, daß es Spaß gemacht hat? Warum lachst du?"
„Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich etwas sehe, wo gar nichts zu sehen ist."
„Was zum Beispiel?"
„Nun, diese Frau..."
„Ich weiß, diese 'Celia Montfort'."
„Ja. Ich meine, diese Celia Montfort könnte mich vielleicht manipulieren, sich meiner bedienen wollen."
„Wozu?"
„Das weiß ich nicht. Aber ich spüre, daß sie etwas von mir will. Sie wartet auf etwas. Von mir. Stimmt's?"
„Ich weiß es nicht, Dan, ich weiß es einfach nicht. Sie ist sehr komplex, diese Frau. Ich verstehe nicht allzuviel von Frauen; die meisten Erfahrungen habe ich mit Männern, wie du weißt. Aber ich glaube nicht, daß Celia Montfort genau weiß, was sie will. Ich glaube, es hat mehr mit Fühlen zu tun, und sie tappt darauflos, macht alle möglichen falschen Ansätze und geht immer wieder in die verkehrte Richtung. Hast du nicht auch dieses Gefühl?"
„Ja, das ist richtig. Bist du jetzt ausgeruht?"
„Ja, Liebling, ich bin jetzt ausgeruht."
„Können wir uns noch einmal lieben?"
„Bitte! Langsam!"
„Tony, Tony, ich liebe dich"
„Oh, pah!" sagte Tony Montfort.
36
Das Sonderbare, ja, das Sonderbare, zu diesem Schluß kam Daniel Blank, war, daß die Welt, seine Welt, sich ausdehnte, während er selbst sich zusammenzog. Das heißt, Tony und Mrs. Cleek und Valenter und Mortons — alle, die er kannte und denen er auf der Straße begegnete - nun ja, er liebte sie alle. So traurig. Sie waren alle so traurig. Aber andererseits kam er sich, wie er Celia kürzlich gesagt hatte, so losgelöst von ihnen vor. Trotzdem konnte er sie lieben. Das war merkwürdig und unerklärlich.
Gleichzeitig weiteten sich seine Liebe und sein Verständnis, alles Lebendige zu umfassen - Menschen, Tiere, Felsen, den durcheinanderwirbelnden Himmel -, gleichzeitig zog er sich in sich zurück, kicherte, nagte an seinem eigenen Herzen und hütete sein geheimes Leben. Er verdichtete sich, rollte sich in sich selbst zusammen, drang tiefer und immer tiefer in sich ein. Es war ein abgeschlossenes Leben von Schatten, Duft und Nach-Atem-Ringen. Und dennoch, dennoch gab es Sterne, die ihre Bahn zogen, lag Musik in der trügerischen Welt.
Es lief auf die Frage hinaus: Sollte er ein Einsiedlerdasein führen oder nicht? Er konnte sich nackt vor einer Spiegelwand drehen und sich in goldenen Ketten umfangen. Das war eine Antwort. Oder er konnte hinausgehen und sich unter das zähflüssige Leben auf der Straße mischen. Sich dazugesellen. Durchdringen und sie alle erkennen. Lieben.
Er entschied sich für die Straßen, die bösen Straßen, und das Offensein. Dort lag die Antwort. Nicht in AMROK II, sondern in Charles
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