Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
flüsterte Emery Power: »Sind Sie wahnsinnig?«
»Nein, ich bin nicht wahnsinnig. Warten Sie, ich werde Ihnen etwas zeigen.« Er nahm den Becher auf. Mit seinem Fingernagel drückte er fest auf den offenen Rachen der Schlange, die sich um den Baum wand. Auf der Innenseite des Bechers glitt ein winziger Teil des ziselierten Goldes zur Seite und gab eine Öffnung in den hohlen Henkel frei.
»Sehen Sie. Das war der Trinkbecher des Borgia-Papstes. Durch dieses kleine Loch ergoss sich das Gift in den Trunk. Sie haben selbst gesagt, dass die Geschichte des Bechers eine Kette von Gräueltaten ist. Gewalt und Blut und böse Leidenschaften waren immer mit dem Leben seines Besitzers verbunden. Vielleicht würde jetzt auch Ihnen ein Unheil widerfahren.«
»Aberglauben!«
»Vielleicht. Aber warum waren Sie so erpicht darauf, dieses Ding zu besitzen? Nicht wegen seiner Schönheit noch wegen seines Wertes. Sie haben hundert – vielleicht tausend schöne und seltene Gegenstände. Sie brauchten es nur, um Ihren Stolz zu befriedigen. Sie wollen sich nicht schlagen lassen. Eh bien, Sie sind nicht geschlagen. Sie haben gesiegt! Der Becher gehört Ihnen. Aber warum wollen Sie nicht jetzt eine vornehme – eine erhabene Geste tun? Senden Sie ihn dorthin zurück, wo er fast zehn Jahre hindurch in Frieden geweilt hat. Dort wird er von dem Bösen, das ihm anhaftet, gereinigt werden. Er gehörte einst der Kirche – lassen Sie ihn zur Kirche zurückkehren. Lassen Sie ihn wieder auf dem Altar stehen, gereinigt und entsühnt, so wie wir hoffen, dass auch die Menschenseelen gereinigt und entsühnt sein werden.«
Er beugte sich vor.
»Lassen Sie mich Ihnen den Ort beschreiben, wo ich ihn fand. Ein Garten des Friedens mit Ausblick auf das Meer, auf ein vergessenes Paradies der Jugend und der ewigen Schönheit.«
Er sprach weiter und beschrieb in schlichten Worten den weltfernen Zauber von Inishgowlen.
Emery Power lehnte sich zurück, die Hand über den Augen.
»Ich wurde an der Westküste Irlands geboren«, gestand er endlich. »Ich fuhr als Junge von dort nach Amerika.«
Poirot sagte sanft:
»Das wusste ich.«
Der Finanzmann richtete sich in seinem Stuhl auf. Seine Augen waren wieder listig. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen:
»Sie sind ein sonderbarer Kauz, Monsieur Poirot. Sie sollen Ihren Willen haben. Bringen Sie den Becher ins Kloster zurück, als Spende in meinem Namen. Ein teures Geschenk. Dreißigtausend Pfund – und was bekomme ich dafür?«
Poirot sagte ernst:
»Die Nonnen werden für Ihre Seele beten.«
Das Lächeln des reichen Mannes vertiefte sich – ein sehnsüchtiges, hungriges Lächeln.
»So ist es schließlich doch noch eine Anlage! Vielleicht die beste, die ich je gemacht habe…«
In dem kleinen Empfangszimmer des Klosters erzählte Hercule Poirot seine Geschichte und gab der Oberin den Kelch zurück.
Sie flüsterte:
»Sagen Sie ihm, dass wir ihm danken und für ihn beten werden.«
Poirot erwiderte leise:
»Er braucht Ihre Gebete.«
»Ist er denn ein unglücklicher Mensch?«
Poirot sagte:
»So unglücklich, dass er vergessen hat, was Glück bedeutet. So unglücklich, dass er nicht weiß, dass er unglücklich ist.«
Die Nonne sagte leise:
»Also ein reicher Mann…«
Hercule Poirot antwortete nicht – denn er wusste, dass es darauf nichts mehr zu sagen gab.
Die Gefangennahme des Zerberus
H ercule Poirot schwankte in der Untergrundbahn hin und her und dachte im Stillen, dass es zu viele Menschen auf der Welt gibt. Gewiss gab es in Londons unterirdischer Welt in diesem besonderen Augenblick, um sechs Uhr dreißig abends, zu viele Menschen. Hitze, Lärm, Gedränge – der unwillkommene Druck von Händen, Armen, Leibern, Schultern – und im Ganzen, dachte er angewidert, eine hässliche, uninteressante Menge von Unbekannten. Die Menschheit, so en masse betrachtet, war nicht anziehend. Wie selten sah man ein geistvolles Gesicht, wie selten eine femme bien mise! Was war das für eine Leidenschaft, die Frauen packte, unter den ungünstigsten Umständen zu stricken? Das Stricken steht den Frauen nicht. Die Versunkenheit, die glasigen Augen, die ruhelosen, geschäftigen Finger! Man braucht die Behändigkeit der Wildkatze und die Willensstärke eines Napoleon, um in einer überfüllten Untergrundbahn zu stricken, aber die Frauen bringen es zustande. Wenn es ihnen gelingt, einen Platz zu erobern, kommt gleich ein unansehnlicher lachsrosa Streifen heraus, und tick-tack beginnen die Nadeln
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