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Die Erwaehlten

Die Erwaehlten

Titel: Die Erwaehlten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Westerfeld
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aber nicht, hatte keine Angst, zu fallen. Es kam ihr so vor, als ob ihr Körper aufgehört hätte, an Schwerkraft zu glauben.
    Jessica fiel auf, dass sie mit ihrer freien Hand ein Blatt festhielt. Vermutlich hatte sie es aus der Luft gefangen, während sie durch den erstarrten Blätterwirbel geflogen waren.
    „Alles in Ordnung“, sagte Jonathan. „Ich hab dich.“
    „Ich weiß“, flüsterte sie. „Aber wer hat dich ?“Die Sohlen von Jonathans Schuhen berührten das Schieferdach kaum, wie bei einem Heißluftballon, der gleich vom Boden abhebt.
    Statt einer Antwort nahm er ihr das Blatt aus der Hand. Er hielt es zwischen zwei Fingern, dann ließ er los. Es fiel nicht zu Boden, blieb einfach da, wo Jonathan es in der Luft abgesetzt hatte.
    Jessica griff danach. Als ihre Fingerspitzen das Blatt berührten, sank es langsam auf das Dach, dann rutschte es die steile Schräge hinab. Genau wie bei den Regentropfen hatte sie es mit ihrer Berührung befreit. Nur Jonathan war anders.
    „Die Gravitation hält mit der Zeit an“, sagte Jonathan. „Wenn etwas fällt, vergeht Zeit.“
    „Muss wohl so sein.“
    „Erinnerst du dich an das Einführungskapitel im Physikbuch? ,Gravitation ist nur eine Krümmung der Raumzeit.‘“
    Jessica seufzte. Noch ein Kurs für Fortgeschrittene, bei dem sie schon nicht mehr mitkam.
    „Insofern“, fuhr Jonathan fort, „bin ich wahrscheinlich ein bisschen mehr aus der Zeit als ihr anderen. Die Midnightgravitation kommt bei mir nicht richtig an. Ich wiege etwas, aber nicht viel.“
    Jessica versuchte nachzuvollziehen, was er da sagte. Wenn Regentropfen in der Luft schwebten, vermutete sie, dann konnte ein Mensch das auch. Warum sollte ein Midnighter dann fallen? ,fragte sie sich.
    „Du kannst also fliegen.“
    „Nicht wie Superman fliegt“, antwortete Jonathan. „Ich kann aber ziemlich weit springen und aus jeder Entfernung fa… hoppla !“
    Gedankenlos hatte Jessica seine Hand losgelassen. Sofort hatte sie ihr normales Gewicht wieder, als ob jemand plötzlich eine Kette aus Backsteinen um ihren Hals gelegt hätte. Das Haus baute sich unter ihr auf, und sie sank auf der entsprechend heimtückischen Schräge zusammen. Sie war nicht länger aus Federn gemacht, sondern aus stabilen Knochen und Fleisch. Die plötzliche Panik vor der Höhe traf sie wie ein Schlag in den Bauch.
    Unwillkürlich fuhren ihre Arme aus, als sie abwärtsrutschte, Fingernägel schrammten über die Schieferschindeln. Sie rollte und schlidderte auf die Dachkante zu.
    „Jonathan!“
    Die Kante rückte bedrohlich näher. Ein Fuß rutschte ab ins Leere. Die Spitze ihres zweiten Turnschuhs verfing sich in der Dachrinne, und sie stoppte kurz. Ihr Halt an den Schindeln war allerdings dürftig. Ihre Finger, ihr Fuß, alles kam ins Rutschen …
    Dann ließ die Schwerkraft wieder von ihr ab.
    Jessica spürte Jonathans Hände, die sie sanft an beiden Schultern berührten. Gemeinsam schwebten sie zu Boden.
    „Tut mir schrecklich leid“, sagte er.
    Ihr Herz hämmerte immer noch, Angst hatte sie aber keine mehr. Das federleichte Gefühl war so schnell zurückgekehrt wie die Woge der Erleichterung, nachdem man einen horrormäßigen Test hinter sich gebracht hatte.
    Ihre Füße ließen sich am Boden nieder.
    „Bist du okay?“, fragte Jonathan. „Ich hätte dich warnen müssen.“
    „Ist schon in Ordnung“, sagte sie und schüttelte ihren Kopf. „Hätte ich wissen müssen. Ich dachte bloß gerade, wie schade, dass wir nicht alle fliegen können.“
    „Nein, nur ich. Obwohl, als du aufgetaucht bist, da hatte ich irgendwie gehofft.“
    Sie sah Jonathan an. Seinen aufgerissenen Augen sah man den Schrecken immer noch an. Und seine Enttäuschung, dass sie gefallen war, dass sie nicht so war wie er, die sah sie auch.
    „Stimmt, irgendwie hatte ich auch drauf gehofft, schätze ich.“ Sie nahm ihn fest bei der Hand. „Nimm mich doch wieder mit rauf. Bitte.“
    „Hast du keine Angst?“
    „Bisschen“, gab sie zu. „Entängstige mich.“
     
    Sie flogen.
    Es stimmte, Jonathan war nicht Superman. Fliegen war harte Arbeit. Jessica stellte fest, dass sie viel höher kamen, wenn sie mit ihm sprang, sich so fest abstieß, wie sie konnte. Das Timing war trickreich – wenn sich einer von ihnen zu früh oder zu heftig abstieß, dann flogen sie in verschiedene Richtungen und wurden auf Armeslänge abgebremst, wirbelten hilflos umeinander, bis sie lachend wieder am Boden ankamen. Sie wurden aber mit jedem Sprung besser,

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