Die Erzaehlungen 1900-1906
weh getan. Aber wenn er daran dachte, daß er dem
lieben Geschöpf einen dummen Bubenstreich gespielt hatte und daß sie ihm
nun zürnen und ihn für einen einfältigen Ulkmacher ansehen müsse, dann
brannte ihn Reue und Scham.
Langsam ging er heim und pfiff auf der steilen Treppe diesmal kein Lied,
sondern stieg still und bedrückt in seine Kammer hinauf. Eine halbe Stunde
lang saß er in dem dunkeln und kalten Stüblein, die Stirn an der Fenster-
scheibe. Dann langte er die Geige hervor und spielte lauter sanfte, alte Lieder aus seiner Kinderzeit und darunter manche, die er seit vier und fünf Jahren
nimmer gesungen oder gegeigt hatte. Er dachte an seine Schwester und an
den Garten daheim, an den Kastanienbaum und an die rote Kapuzinerblüte
an der Veranda, und an seine Mutter. Und als er dann müde und verwirrt zu
Bett gegangen war und doch nicht gleich schlafen konnte, da geschah es dem
trotzigen Abenteurer und Gassenhelden, daß er ganz leise und sanft zu weinen begann und stille weiter weinte, bis er eingeschlummert war.
Karl kam nun bei den bisherigen Genossen seiner abendlichen Streifzüge in den Ruf eines Feiglings und Deserteurs, denn er nahm nie wieder an diesen Gängen teil. Statt dessen las er den Don Carlos, die Gedichte Emanuel Geibels und die Hallig von Biernatzki, fing ein Tagebuch an und nahm die Hilfsbereitschaft
der guten Babett nur selten mehr in Anspruch.
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Diese gewann den Eindruck, es müsse etwas bei dem jungen Manne nicht in
Ordnung sein, und da sie nun einmal eine Fürsorge um ihn übernommen hatte,
erschien sie eines Tages an der Kammertür, um nach dem Rechten zu sehen. Sie kam nicht mit leeren Händen, sondern brachte ein schönes Stück Lyonerwurst
mit und drang darauf, daß Karl es sofort vor ihren Augen verzehre.
Ach laß nur, Babett , meinte er,
jetzt hab ich gerade keinen Hunger.
Sie war jedoch der Ansicht, junge Leute müßten zu jeder Stunde essen
können, und ließ nicht nach, bis er ihren Willen erfüllt hatte. Sie hatte einmal von der Überbürdung der Jugend an den Gymnasien gehört und wußte nicht,
wie fern ihr Schützling sich von jeder Überanstrengung im Studieren hielt. Nun sah sie in der auffallenden Abnahme seiner Eßlust eine beginnende Krankheit, redete ihm ernstlich ins Gewissen, erkundigte sich nach den Einzelheiten seines Befindens und bot ihm am Ende ein bewährtes volkstümliches Laxiermittel
an. Da mußte Karl doch lachen und erklärte ihr, daß er völlig gesund sei und daß sein geringerer Appetit nur von einer Laune oder Verstimmung herrühre.
Das begriff sie sofort.
Pfeifen hört man dich auch fast gar nimmer , sagte sie lebhaft,
und es
ist dir doch niemand gestorben. Sag, du wirst doch nicht gar verliebt sein?
Karl konnte nicht verhindern, daß er ein wenig rot wurde, doch wies er
diesen Verdacht mit Entrüstung zurück und behauptete, ihm fehle nichts als
ein wenig Zerstreuung, er habe Langeweile.
Dann weiß ich dir gleich etwas , rief Babett fröhlich.
Morgen hat die
kleine Lies vom unteren Eck Hochzeit. Sie war ja schon lang genug verlobt,
mit einem Arbeiter. Eine bessere Partie hätte sie schon machen können, sollte man denken, aber der Mann ist nicht unrecht, und das Geld allein macht auch
nicht selig. Und zu der Hochzeit mußt du kommen, die Lies kennt dich ja
schon, und alle haben eine Freude, wenn du kommst und zeigst, daß du nicht
zu stolz bist. Die Anna vom Grünen Baum und die Gret vom Bischofseck sind
auch da und ich, sonst nicht viel Leute. Wer sollt’s auch zahlen? Es ist halt nur so eine stille Hochzeit, im Haus, und kein großes Essen und kein Tanz und nichts dergleichen. Man kann auch ohne das vergnügt sein.
Ich bin aber doch nicht eingeladen , meinte Karl zweifelnd, da die Sache
ihm nicht gar so verlockend vorkam. Aber die Babett lachte nur.
Ach was, das besorg ich schon, und es handelt sich ja auch bloß um eine
Stunde oder zwei am Abend. Und jetzt fällt mir noch das Allerbeste ein!
Du bringst deine Geige mit. – Warum nicht gar! Ach, dumme Ausreden! Du
bringst sie mit, gelt ja, das gibt eine Unterhaltung, und man dankt dir noch dafür.
Es dauerte nicht lange, so hatte der junge Herr zugesagt.
Am andern Tage holte ihn die Babett gegen Abend ab; sie hatte ein wohler-
haltenes Prachtkleid aus ihren jüngeren Jahren angelegt, das sie stark beengte 258
und erhitzte, und sie war ganz aufgeregt und rot vor Festfreude. Doch duldete sie nicht, daß Karl sich umkleide, nur einen frischen
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