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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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heftig ein, bis die Babett zum Frieden mahnte. Im Eifer der Debatte hatte Tines nächste Nachbarin dieser den Arm um die Hüfte gelegt, und Karl Bauer merkte, daß er
    einstweilen auf eine Fortführung des Zwiegespräches verzichten müsse.
    Er kam auch zu keiner neuen Annäherung, harrte aber wartend aus, bis
    nach nahezu zwei Stunden die Margret das Zeichen zum Aufbruch gab. Es
    war schon dämmerig und kühl geworden. Er sagte kurz adieu und lief eilig
    davon.
    Als eine Viertelstunde später die Tine sich in der Nähe ihres Hauses von der letzten Begleiterin verabschiedet hatte und die kleine Strecke vollends allein ging, trat plötzlich hinter einem Ahornbaume hervor der Lateinschüler ihr in den Weg und grüßte sie mit schüchterner Höflichkeit. Sie erschrak ein wenig
    und sah ihn beinahe zornig an.
    Was wollen Sie denn, Sie?
    Da bemerkte sie, daß der junge Kerl ganz ängstlich und bleich aussah, und
    sie milderte Blick und Stimme beträchtlich.
    Also, was ist’s denn mit Ihnen?
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    Er stotterte sehr und brachte wenig Deutliches heraus. Dennoch verstand
    sie, was er meine, und verstand auch, daß es ihm ernst sei, und kaum sah sie den Jungen so hilflos in ihre Hände geliefert, so tat er ihr auch schon leid, natürlich ohne daß sie darum weniger Stolz und Freude über ihren Triumph
    empfunden hätte.
    Machen Sie keine dummen Sachen , redete sie ihm gütig zu. Und als sie
    hörte, daß er erstickte Tränen in der Stimme hatte, fügte sie hinzu:
    Wir
    sprechen ein andermal miteinander, jetzt muß ich heim. Sie dürfen auch nicht so aufgeregt sein, nicht wahr? Also aufs Wiedersehen!
    Damit enteilte sie nickend, und er ging langsam, langsam davon, während
    die Dämmerung zunahm und vollends in Finsternis und Nacht überging. Er
    schritt durch Straßen und über Plätze, an Häusern, Mauern, Gärten und sanft-
    fließenden Brunnen vorbei, ins Feld vor die Stadt hinaus und wieder in die
    Stadt hinein, unter den Rathausbogen hindurch und am oberen Marktplatz
    hin, aber alles war verwandelt und ein unbekanntes Fabelland geworden. Er
    hatte ein Mädchen lieb, und er hatte es ihr gesagt, und sie war gütig gegen
    ihn gewesen und hatte
    auf Wiedersehen
    zu ihm gesagt!
    Lange schritt er ziellos so umher, und da es ihm kühl wurde, hatte er die
    Hände in die Hosentaschen gesteckt, und als er beim Einbiegen in seine Gasse aufschaute und den Ort erkannte und aus seinem Traum erwachte, fing er
    ungeachtet der späten Abendstunde an laut und durchdringend zu pfeifen.
    Es tönte widerhallend durch die nächtige Straße und verklang erst im kühlen
    Hausgang der Witwe Kusterer.
    Tine machte sich darüber, was aus der Sache werden solle, viele Gedanken, jedenfalls mehr als der Verliebte, der vor Erwartungsfieber und süßer Erregung nicht zum Nachdenken kam. Das Mädchen fand, je länger sie sich das Geschehene vorhielt und überlegte, desto weniger Tadelnswertes an dem hübschen
    Knaben; auch war es ihr ein neues und köstliches Gefühl, einen so feinen und gebildeten, dazu unverdorbenen Jüngling in sie verliebt zu wissen. Dennoch
    dachte sie keinen Augenblick an ein Liebesverhältnis, das ihr nur Schwierig-
    keiten oder gar Schaden bringen und jedenfalls zu keinem soliden Ziele führen konnte.
    Hingegen widerstrebte es ihr auch wieder, dem armen Buben durch eine
    harte Antwort oder durch gar keine weh zu tun. Am liebsten hätte sie ihn halb schwesterlich, halb mütterlich in Güte und Scherz zurechtgewiesen. Mädchen
    sind in diesen Jahren schon fertiger und ihres Wesens sicherer als Knaben,
    und eine Dienstmagd vollends, die ihr eigen Brot verdient, ist in Dingen der Lebensklugheit jedem Schüler oder Studentlein weit überlegen, zumal wenn
    dieser verliebt ist und sich willenlos ihrem Gutdünken überläßt.
    263
    Die Gedanken und Entschlüsse der bedrängten Magd schwankten zwei Tage
    lang hin und wider. So oft sie zu dem Schluß gekommen war, eine strenge
    und deutliche Abweisung sei doch das Richtige, so oft wehrte sich ihr Herz,
    das in den Jungen zwar nicht verliebt, aber ihm doch in mitleidig-gütigem
    Wohlwollen zugetan war.
    Und schließlich machte sie es, wie es die meisten Leute in derartigen Lagen
    machen: sie wog ihre Entschlüsse so lang gegeneinander ab, bis sie gleichsam abgenutzt waren und zusammen wieder dasselbe zweifelnde Schwanken dar-stellten wie in der ersten Stunde. Und als es Zeit zu handeln war, tat und sagte sie kein Wort von dem zuvor Bedachten und Beschlossenen, sondern überließ
    sich

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