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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Kragen solle er umlegen, und die Stiefel bürstete sie trotz des Staatskleides ihm sogleich an den Füßen ab. Dann gingen sie miteinander in das ärmliche Vorstadthaus, wo jenes junge Ehepaar eine Stube nebst Küche und Kammer gemietet hatte. Und Karl
    nahm seine Geige mit.
    Sie gingen langsam und vorsichtig, denn seit gestern war Tauwetter eingetre-
    ten, und sie wollten doch mit reinen Stiefeln draußen ankommen. Babett trug
    einen ungeheuer großen und massiven Regenschirm unter den Arm geklemmt
    und hielt ihren rotbraunen Rock mit beiden Händen hoch heraufgezogen, nicht
    zu Karls Freude, der sich ein wenig schämte, mit ihr gesehen zu werden.
    In dem sehr bescheidenen, weißgegipsten Wohnzimmer der Neuvermählten
    saßen um den tannenen, sauber gedeckten Eßtisch sieben oder acht Menschen
    beieinander, außer dem Paare selbst zwei Kollegen des Hochzeiters und ein
    paar Basen oder Freundinnen der jungen Frau. Es hatte einen Schweinebraten
    mit Salat zum Festmahl gegeben, und nun stand ein Kuchen auf dem Tisch
    und daneben am Boden zwei große Bierkrüge. Als die Babett mit Karl Bauer
    ankam, standen alle auf, der Hausherr machte zwei schamhafte Verbeugungen,
    die redegewandte Frau übernahm die Begrüßung und Vorstellung, und jeder
    von den Gästen gab den Angekommenen die Hand.
    Nehmet vom Kuchen , sagte die Wirtin. Und der Mann stellte schweigend
    zwei neue Gläser hin und schenkte Bier ein.
    Karl hatte, da noch keine Lampe angezündet war, bei der Begrüßung nie-
    mand als die Gret vom Bischofseck erkannt. Auf einen Wink Babetts drückte
    er ein in Papier gewickeltes Geldstück, das sie ihm zu diesem Zwecke vorher
    übergeben hatte, der Hausfrau in die Hand und sagte einen Glückwunsch da-
    zu. Dann wurde ihm ein Stuhl hingeschoben, und er kam vor sein Bierglas zu
    sitzen.
    In diesem Augenblick sah er mit plötzlichem Erschrecken neben sich das
    Gesicht jener jungen Magd, die ihm neulich in der Brühelgasse die Ohrfeige
    versetzt hatte. Sie schien ihn jedoch nicht zu erkennen, wenigstens sah sie ihm gleichmütig ins Gesicht und hielt ihm, als jetzt auf den Vorschlag des Wirtes alle miteinander anstießen, freundlich ihr Glas entgegen. Hierdurch ein wenig beruhigt, wagte Karl sie offen anzusehen. Er hatte in letzter Zeit jeden Tag oft genug an dies Gesicht gedacht, das er damals nur einen Augenblick und
    seither nicht wieder gesehen hatte, und nun wunderte er sich, wie anders sie aussah. Sie war sanfter und zarter, auch etwas schlanker und leichter als das Bild, das er von ihr herumgetragen hatte. Aber sie war nicht weniger hübsch
    und noch viel liebreizender, und es wollte ihm scheinen, sie sei kaum älter als er.
    Während die andern, namentlich Babett und die Anna, sich lebhaft unter-
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    hielten, wußte Karl nichts zu sagen und saß stille da, drehte sein Bierglas in der Hand und ließ die junge Blonde nicht aus den Augen. Wenn er daran
    dachte, wie oft es ihn verlangt hatte, diesen Mund zu küssen, erschrak er beinahe, denn es schien ihm nun, je länger er sie ansah, desto schwieriger und
    verwegener, ja ganz unmöglich zu sein.
    Er wurde kleinlaut und blieb eine Weile schweigsam und unfroh sitzen. Da
    rief ihn die Babett auf, er solle seine Geige nehmen und etwas spielen. Der
    Junge sträubte und zierte sich ein wenig, griff dann aber in den Kasten, zupfte, stimmte und spielte ein beliebtes Lied, das, obwohl er zu hoch angestimmt
    hatte, die ganze Gesellschaft sogleich mitsang.
    Damit war das Eis gebrochen, und es entstand eine laute Fröhlichkeit um
    den Tisch. Eine nagelneue kleine Stehlampe ward vorgezeigt, mit Öl gefüllt
    und angezündet, Lied um Lied klang in der Stube auf, ein frischer Krug Bier
    wurde aufgestellt, und als Karl Bauer einen der wenigen Tänze, die er konnte, anstimmte, waren im Augenblick drei Paare auf dem Plan und drehten sich
    lachend durch den viel zu engen Raum.
    Gegen neun Uhr brachen die Gäste auf. Die Blonde hatte eine Straße lang
    denselben Weg wie Karl und Babett, und auf diesem Wege wagte er es, ein
    Gespräch mit dem Mädchen zu führen.
    Wo sind Sie denn hier im Dienst?
    fragte er schüchtern.
    Beim Kaufmann Kolderer, in der Salzgasse am Eck.
    So, so.
    Ja.
    Ja freilich. So . . .
    Dann gab es eine längere Pause. Aber er riskierte es und fing noch einmal
    an.
    Sind Sie schon lange hier?
    Ein halb Jahr.
    Ich meine immer, ich hätte Sie schon einmal gesehen.
    Ich Sie aber nicht.
    Einmal am Abend, in der Brühelgasse, nicht?
    Ich weiß nichts davon. Liebe Zeit, man

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