Die Erzaehlungen 1900-1906
sah
aber natürlich den Gesellen jetzt nur noch ganz verächtlich an. So oft er konnte, machte er Witze über ihn, und wir lachten dann alle mit, während Zbinden an seinem Schraubstock stehenblieb und bloß auf die Zähne biß, weil er ja alles hören konnte. Nur einmal wartete er am Feierabend vor der Werkstatt auf
mich und sagte dann zu mir:
Es wäre besser, du würdest nicht auch mitla-
chen, wenn der Christian so wüst redet! Du weißt ja nicht, was du tust, und
du weißt auch nicht, wie es mir tut. Weißt du, der Christian ist selber kein guter Mensch, und was der höhnt und witzelt, das spür ich nicht. Aber du
bist noch nicht verdorben, und du bist auch noch Lehrbub, von dir hör ich’s
nicht gern.
Ich begriff ihn gar nicht. Er war Gesell und ich war Lehrbub. Er hätte mich
ruhig hauen dürfen, kein Hahn hätte danach gekräht. Aber so wunderlich ist
er gewesen.
Am Abend las er immer. Zuerst ging er spazieren, und im Anfang dachten
wir, er laufe zu einem Mädchen, aber er ging nur allein vor die Stadt hinaus, und dann, wenn er wiederkam, setzte er sich in der Kammer hin und las.
Der Meister wollte schimpfen, aber Zbinden zahlte das Erdöl selber. Zwei von seinen Büchern hatte der Seiffert einmal gesehen, die waren beide von Tolstoi.
Der Seiffert erzählte es uns, und der Christian sagte:
So so, von Tolstoi? Also
für das braucht der Lump sein Geld.
Dennoch wollte der Christian jetzt diese Bücher auch selber sehen, aber sie
wurden immer eingeschlossen. Nur das Neue Testament lag manchmal da.
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Das schließt er nicht ein , sagte der Christian,
das legt er natürlich offen
hin, der scheinheilige Bruder. Der wird viel in der Bibel lesen!
Da war es an einem heißen Abend, daß der Fremde spazierenging und ver-
gessen hatte, seinen Koffer abzuschließen. Der Christian ging wieder in seine Kammer und stöberte: da fand er alles offen und machte sich darüber her.
Außer den Büchern von Tolstoi kam eine Gedichtsammlung und eine Schreib-
mappe zum Vorschein, ferner ein Buch
Der Weg zur Erkenntnis oder Licht
aus dem Osten . In dem Gedichtbuch stand auf dem ersten Blatt ein Vers
geschrieben und darunter:
Zur Erinnerung an unsere Herbstabende. Mathil-
de.
In der Mappe waren ein paar Briefe, auch mit Mathilde unterschrieben,
und eine Photographie dieser Frau, die sehr fein aussah, aber nicht mehr ganz jung. Ich sah das Bild später dann selbst. Der Christian schaute sich alles
gut an, dann nahm er einen Bleistift, machte ihn naß und schrieb etwas Un-
anständiges auf die Rückseite der Photographie.
Am andern Tag konnte er es nicht lassen, den Zbinden mit seiner Ent-
deckung aufzuziehen.
Du , sagte er ihm,
das sind sicher recht schöne Herb-
stabende gewesen, mit Mathilde?
Da hatte ihn der andere schon an der Gurgel.
Satan du!
schrie er laut,
und wir glaubten, er wolle ihn umbringen. Aber dann ließ er ihn plötzlich los und sagte nur:
Das war dein letztes wüstes Wort, Christian. Wenn ich noch
so eins von dir höre, bist du kaputt.
Und stieß ihn weg. Wenn er ihn nur
geprügelt hätte! Aber nein, er schluckte immer alle Wut in sich hinein.
Abends ging dann die Wüstenei vollends los. Der Zbinden setzte sich, ganz
gegen alle Gewohnheit, in eine Wirtschaft und trank. Dann kam er spät heim,
die andern lagen alle schon im Bett. Wahrscheinlich hat er da noch seinen
Koffer aufgemacht und das Bild angesehen und Christians Zote darauf ent-
deckt.
Gleich darauf kam er in die Kammer gestürmt, wo neben Seiffert der Chri-
stian lag. Er war noch wach, und als der Fremde so wütend auf sein Bett
losstürmte, zog er sich schnell die Decke über den Kopf. Der Zbinden hatte
ein starkes Stänglein Schmiedeeisen in Händen, mit dem schlug er zweimal
aus aller Kraft auf den Versteckten los. Dann schrie er so laut auf, daß der Seiffert davon aufwachte, und lief davon, zur Kammer und zum Haus hinaus.
Jetzt kam alles auf die Beine. Der Christian, wie sich zeigte, war ohne Be-
sinnung; er hatte aber bloß ein Schlüsselbein gebrochen. Nach vierzehn Tagen lief er schon wieder herum. Aber den Zbinden fand man erst nach zwei Tagen,
im hintern Stadtwald. Dort saß er, wie wenn er müde wäre, im Gebüsch auf
dem Moosboden, aber er atmete nicht mehr. Er hatte sich beide Pulsadern
aufgeschnitten.
Von da an ging meine Freundschaft mit Christian immer mehr auseinander,
und er ging auch bald auf Wanderschaft, obwohl der Sommer schon fast zu
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Ende
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