Die Erzaehlungen 1900-1906
zu
Rast und Lustbarkeit gebrauchen wollten, war er ein kleiner Wald geworden.
Man mußte sich bescheiden. Zwar wurde der alte Weg zwischen den zwei Pla-
tanenreihen wiederhergestellt, sonst aber begnügte man sich damit, schmale
und gewundene Fußwege durch das Dickicht zu ziehen, die heidigen Lichtun-
gen mit Rasen zu besäen und an guten Plätzen grüne Sitzbänke aufzustellen.
Und die Leute, deren Großväter die Platanen nach der Schnur gepflanzt und
beschnitten und nach Gutdünken gestellt und geformt hatten, kamen nun
mit ihren Kindern zu ihnen zu Gast und waren froh, daß in der langen Ver-
wahrlosung aus den Alleen ein Wald geworden war, in welchem Sonne und
Winde ruhen und Vögel singen und Menschen ihren Gedanken, Träumen und
Gelüsten nachhängen konnten.
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Paul Abderegg lag im Halbschatten zwischen Gehölz und Wiese und hatte ein
weiß und rot gebundenes Buch in der Hand. Bald las er darin, bald sah er übers Gras hinweg den flatternden Bläulingen nach. Er stand eben da, wo Frithjof
über Meer fährt, Frithjof der Liebende, der Tempelräuber, der von der Heimat Verbannte. Groll und Reue in der Brust, segelt er über die ungastliche See,
am Steuer stehend; Sturm und Gewoge bedrängen das schnelle Drachenschiff,
und bitteres Heimweh bezwingt den starken Steuermann.
Über der Wiese brütete die Wärme, hoch und gellend sangen die Grillen,
und im Innern des Wäldchens sangen tiefer und süßer die Vögel. Es war herr-
lich, in dieser einsamen Wirrnis von Düften und Tönen und Sonnenlichtern
hingestreckt in den heißen Himmel zu blinzeln, oder rückwärts in die dunkeln Bäume hineinzulauschen, oder mit geschlossenen Augen sich auszurecken und
das tiefe, warme Wohlsein durch alle Glieder zu spüren. Aber Frithjof fuhr
über Meer, und morgen kam Besuch, und wenn er nicht heute noch das Buch
zu Ende las, war es vielleicht wieder nichts damit, wie im vorigen Herbst. Da war er auch hier gelegen und hatte die Frithjofsage angefangen, und es war
auch Besuch gekommen, und mit dem Lesen hatte es ein Ende gehabt. Das
Buch war dageblieben, er aber ging in der Stadt in seine Schule und dachte
zwischen Homer und Tacitus beständig an das angefangene Buch und was im
Tempel geschehen würde, mit dem Ring und der Bildsäule.
Erlas mit neuem Eifer, halblaut, und über ihm lief ein schwacher Wind
durch die Ulmenkronen, sang das Gevögel und flogen die gleißenden Falter,
Mücken und Bienen. Und als er zuklappte und in die Höhe sprang, hatte er
das Buch zu Ende gelesen, und die Wiese war voll Schatten, und am hellroten
Himmel erlosch der Abend. Eine müde Biene setzte sich auf seinen Ärmel
und ließ sich tragen. Die Grillen sangen noch immer. Paul ging schnell davon, durchs Gebüsch und den Platanenweg und dann über die Straße und den stillen
Vorplatz ins Haus. Er war schön anzusehen, in der schlanken Kraft seiner
sechzehn Jahre, und den Kopf hatte er mit stillen Augen gesenkt, noch von
den Schicksalen des nordischen Helden erfüllt und zum Nachdenken genötigt.
Die Sommerstube, wo man die Mahlzeiten hielt, lag zuhinterst im Hause.
Sie war eigentlich eine Halle, vom Garten nur durch eine Glaswand getrennt,
und sprang geräumig als ein kleiner Flügel aus dem Hause vor. Hier war nun
der eigentliche Garten, der von alters her
am See
genannt wurde, wenn-
gleich statt eines Sees nur ein kleiner, länglicher Teich zwischen den Beeten, Spalierwänden, Wegen und Obstpflanzungen lag. Die aus der Halle ins Freie
führende Treppe war von Oleandern und Palmen eingefaßt, im übrigen sah es
am See
nicht herrschaftlich, sondern behaglich ländlich aus.
Also morgen kommen die Leutchen , sagte der Vater.
Du freust dich
hoffentlich, Paul?
Ja, schon.
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Aber nicht von Herzen? Ja, mein Junge, da ist nichts zu machen. Für uns
paar Leute ist ja Haus und Garten viel zu groß und für niemand soll doch
die ganze Herrlichkeit nicht da sein! Ein Landhaus und ein Park sind dazu da, daß fröhliche Menschen drin herumlaufen, und je mehr, desto besser. Übrigens kommst du mit solenner Verspätung. Suppe ist nicht mehr da.
Dann wandte er sich an den Hauslehrer.
Verehrtester, man sieht Sie ja gar nie im Garten. Ich hatte immer gedacht,
Sie schwärmen fürs Landleben.
Herr Homburger runzelte die Stirn.
Sie haben vielleicht recht. Aber ich möchte die Ferienzeit doch möglichst
zu meinen Privatstudien verwenden.
Alle Hochachtung, Herr Homburger! Wenn einmal Ihr Ruhm die Welt
erfüllt,
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