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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Nacht!
    Herr Homburger verließ das Zimmer höflich und verlor sich geräuschlos im
    Korridor.
    Also die alten Abenteuer haben dir gefallen, Paul?
    lachte der Hausherr.
    Dann laß sie dir von keiner Wissenschaft verhunzen, sonst geschieht’s dir
    recht. Du wirst doch nicht verstimmt sein?
    Ach, es ist nichts. Aber weißt du, ich hatte doch gehofft, der Herr Hom-
    burger würde nicht mit aufs Land kommen. Du hast ja gesagt, ich brauche in
    diesen Ferien nicht zu büffeln.
    Ja, wenn ich das gesagt habe, ist’s auch so, und du kannst froh sein. Und
    der Herr Lehrer beißt dich ja nicht.
    Warum mußte er denn mitkommen?
    Ja, siehst du, Junge, wo hätt er denn sonst bleiben sollen? Da, wo er
    daheim ist, hat er’s leider nicht sonderlich schön. Und ich will doch auch
    mein Vergnügen haben! Mit unterrichteten und gelehrten Männern verkehren,
    ist Gewinn, das merke dir. Ich möchte unsern Herrn Homburger nicht gern
    entbehren.
    Ach, Papa, bei dir weiß man nie, was Spaß und was Ernst ist!
    So lerne es unterscheiden, mein Sohn. Es wird dir nützlich sein. Aber jetzt
    wollen wir noch ein bißchen Musik machen, nicht?
    Paul zog den Vater sogleich freudig ins nächste Zimmer. Es geschah nicht
    häufig, daß Papa unaufgefordert mit ihm spielte. Und das war kein Wunder,
    denn er war ein Meister auf dem Klavier, und der junge konnte, mit ihm
    verglichen, nur eben so ein wenig klimpern.
    Tante Grete blieb allein zurück. Vater und Sohn gehörten zu den Musi-
    kanten, die nicht gerne einen Zuhörer vor der Nase haben, aber gerne einen
    unsichtbaren, von dem sie wissen, daß er nebenan sitzt und lauscht. Das wußte die Tante wohl. Wie sollte sie es auch nicht wissen? Wie sollte ihr irgendein kleiner, zarter Zug an den beiden fremd sein, die sie seit Jahren mit Liebe
    umgab und behütete und die sie beide wie Kinder ansah.
    Sie saß ruhend in einem der biegsamen Rohrsessel und horchte. Was sie
    hörte, war eine vierhändig gespielte Ouvertüre, die sie gewiß nicht zum er-
    stenmal vernahm, deren Namen sie aber nicht hätte sagen können; denn so
    gern sie Musik hörte, verstand sie doch wenig davon. Sie wußte, nachher würde 296
    der Alte oder der Bub beim Herauskommen fragen:
    Tante, was war das für
    ein Stück?
    Dann würde sie sagen
    von Mozart
    oder
    aus Carmen
    und
    dafür ausgelacht werden, denn es war immer etwas anderes gewesen.
    Sie horchte, lehnte sich zurück und lächelte. Es war schade, daß niemand es
    sehen konnte, denn ihr Lächeln war von der echten Art. Es geschah weniger
    mit den Lippen als mit den Augen; das ganze Gesicht, Stirn und Wangen
    glänzten innig mit, und es sah aus wie ein tiefes Verstehen und Liebhaben.
    Sie lächelte und horchte. Es war eine schöne Musik, und sie gefiel ihr
    höchlich. Doch hörte sie keineswegs die Ouvertüre allein, obwohl sie ihr zu
    folgen versuchte. Zuerst bemühte sie sich herauszubringen, wer oben sitze und wer unten. Paul saß unten, das hatte sie bald erhorcht. Nicht daß es gehapert hätte, aber die oberen Stimmen klangen so leicht und kühn und sangen so von
    innen heraus, wie kein Schüler spielen kann. Und nun konnte sich die Tante
    alles vorstellen. Sie sah die zwei am Flügel sitzen. Bei prächtigen Stellen sah sie den Vater zärtlich schmunzeln. Paul aber sah sie bei solchen Stellen mit geöffneten Lippen und flammenden Augen sich auf dem Sessel höher recken.
    Bei besonders heiteren Wendungen paßte sie auf, ob Paul nicht lachen müsse.
    Dann schnitt nämlich der Alte manchmal eine Grimasse oder machte so eine
    burschikose Armbewegung, daß es für junge Leute nicht leicht war, an sich zu halten.
    Je weiter die Ouvertüre vorwärtsgedieh, desto deutlicher sah das Fräulein
    ihre beiden vor sich, desto inniger las sie in ihren vom Spielen erregten Gesichtern. Und mit der raschen Musik lief ein großes Stück Leben, Erfahrung
    und Liebe an ihr vorbei.
    Es war Nacht, man hatte einander schon
    Schlaf wohl
    gesagt, und jeder war
    in sein Zimmer gegangen. Hier und dort ging noch eine Tür, ein Fenster auf
    oder zu. Dann ward es still.
    Was auf dem Lande sich von selber versteht, die Stille der Nacht, ist doch
    für den Städter immer wieder ein Wunder. Wer aus seiner Stadt heraus auf ein Landgut oder in einen Bauernhof kommt und den ersten Abend am Fenster
    steht oder im Bett liegt, den umfängt diese Stille wie ein Heimatzauber und
    Ruheport, als wäre er dem Wahren und Gesunden nähergekommen und spüre
    ein Wehen des Ewigen.
    Es ist ja keine vollkommene Stille.

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