Die Erzaehlungen 1900-1906
auf den Mund zu küssen. Ich bin glücklich, es nun nachholen zu können.
Ehe sie zurückweichen konnte, hatte er sie um das Mieder gefaßt und zog
sie an sich. Sie kreischte und leistete Widerstand, aber sie tat es mit so wenig Geräusch, daß der erfahrene Liebhaber seinen Sieg sicher sah. Mit einem feinen Lächeln küßte er ihren Mund, und sie küßte ihn wieder. Er setzte sich in den Sessel zurück, nahm sie auf den Schoß und sagte ihr die tausend zärtlich
neckischen Worte, die er in drei Sprachen jederzeit zur Verfügung hatte. Noch ein paar Küsse, ein Liebesscherz und ein leises Gelächter, dann fand die Blonde es an der Zeit, sich zurückzuziehen.
Verraten Sie mich nicht, Lieber. Auf Wiedersehn!
Sie ging hinaus. Casanova pfiff eine venetianische Melodie vor sich hin,
rückte den Tisch zurecht und arbeitete weiter. Er versiegelte die drei Brie-
fe und brachte sie dem Wirt, daß sie per Eilpost wegkämen. Zugleich tat er
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einen Blick in die Küche, wo zahlreiche Töpfe überm Feuer hingen. Der Gast-
wirt begleitete ihn.
Was gibt’s heute Gutes?
Junge Forellen, gnädiger Herr.
Gebacken?
Gewiß, gebacken.
Was für Öl nehmen Sie dazu?
Kein Öl, Herr Baron. Wir backen mit Butter.
Ei so. Wo ist denn die Butter?
Sie wurde ihm gezeigt, er roch daran und billigte sie.
Sorgen Sie täglich für ganz frische Butter, so lange ich da bin. Auf meine
Rechnung natürlich.
Verlassen Sie sich darauf.
Sie haben eine Perle von Tochter, Herr Wirt. Gesund, hübsch und sittsam.
Ich bin selbst Vater, das schärft den Blick.
Es sind zwei, Herr Baron.
Wie, zwei Töchter? Und beide erwachsen?
Gewiß. Die Sie bedient hat, war die Ältere. Sie werden die andere bei Tisch
sehen.
Ich zweifle nicht, daß sie Ihrer Erziehung nicht weniger Ehre machen wird
als die Ältere. Ich schätze an jungen Mädchen nichts höher als Bescheidenheit und Unschuld. Nur wer selbst Familie hat, kann wissen, wie viel das sagen will und wie sorgsam die Jugend behütet werden muß.
Die Zeit vor der Mittagstafel widmete der Reisende seiner Toilette. Er ra-
sierte sich selbst, da sein Diener ihn auf der Flucht aus Stuttgart nicht hatte begleiten können. Erlegte Puder auf, wechselte den Rock und vertauschte die
Pantoffeln mit leichten, feinen Schuhen, deren goldene Schnallen die Form einer Lilie hatten und aus Paris stammten. Da es noch nicht ganz Essenszeit
war, holte er aus einer Mappe ein Heft beschriebenes Papier, an dem er mit
dem Bleistift in der Hand sogleich zu studieren begann.
Es waren Zahlentabellen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Casanova hat-
te in Paris den arg zerrütteten Finanzen des Königs durch Inszenierung von
Lottobüros aufgeholfen und dabei ein Vermögen verdient. Sein System zu ver-
vollkommnen und in geldbedürftigen Residenzen, etwa in Berlin oder Peters-
burg einzuführen, war eine von seinen hundert Zukunftsplänen. Rasch und si-
cher überflog sein Blick die Zahlenreihen, vom deutenden Finger unterstützt, und vor seinem inneren Auge balancierten Summen von Millionen und Millionen.
Bei Tische leiteten die beiden Töchter die Bedienung. Man aß vorzüglich,
auch der Wein war gut, und unter den Mitgästen fand Casanova wenigstens
einen, mit dem ein Gespräch sich lohnte. Es war ein mäßig gekleideter, noch
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junger Schöngeist und Halbgelehrter, der ziemlich gut italienisch sprach. Er behauptete, auf einer Studienreise durch Europa begriffen zu sein und zur Zeit an einer Widerlegung des letzten Buches von Voltaire zu arbeiten.
Sie werden mir Ihre Schrift senden, wenn sie gedruckt ist, nicht wahr?
Ich werde die Ehre haben, mich mit einem Werk meiner Mußestunden zu
revanchieren.
Es ist mir eine Ehre. Darf ich den Titel erfahren?
Bitte. Es handelt sich um eine italienische Übersetzung der Odyssee, an
der ich schon längere Zeit arbeite.
Und er plauderte fließend und leichthin viel Geistreiches über Eigentüm-
lichkeit, Metrik und Poetik seiner Muttersprache, über Reim und Rhythmus,
über Homer und Ariosto, den göttlichen Ariosto, von dem er etwa zehn Verse
deklamierte.
Doch fand er daneben auch noch Gelegenheit, den beiden hübschen Schwe-
stern etwas Freundliches zu sagen. Und als man sich vom Tisch erhob, näherte er sich der Jüngeren, sagte ein paar respektvolle Artigkeiten und fragte sie, ob sie wohl die Kunst des Frisierens verstehe. Als sie bejahte, bat er sie, ihm künftig morgens diesen Dienst zu erweisen.
O, ich kann es ebensogut , rief die
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