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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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mehr angehen und wo ich
    kaum anderes als Enttäuschung und vielleicht Leid zu finden hoffen kann?
    Und ich sah mir selber verwundert zu, wie ich ging und ging und zwischen
    Humor und Bangigkeit hin und wider schwankte.
    Es war ein schöner Morgen, die herbstliche Erde und Luft vom ersten Win-
    terduft gestreift, dessen herbe Klarheit mit dem Steigen des Tages abnahm.
    Große Starenzüge strichen in keilförmiger Ordnung mit lautem Schwirren über
    die Felder. Im Tale zog langsam die Herde eines Wanderschäfers hin, und mit
    ihrem leichten Staub vermischte sich der dünne blaue Rauch aus des Schäfers
    Pfeife. Das alles, samt den Bergzügen, farbigen Waldrücken und weidenbestan-
    denen Bachläufen stand in der glasklaren Luft frisch wie ein gemaltes Bild, und die Schönheit der Erde redete ihre leise, sehnsüchtige Sprache, unbekümmert
    wer sie höre.
    Das ist mir immer wieder sonderbar, unbegreiflich und hinreißender als alle
    Fragen und Taten des Tages und Menschengeistes: wie ein Berg sich in den
    Himmel reckt und wie die Lüfte lautlos in einem Tale ruhen, wie gelbe Birken-blätter vom Zweige gleiten und Vogelzüge durch die Bläue fahren. Da greift
    einem das ewig Rätselhafte so beschämend und so süß ans Herz, daß man allen
    Hochmut ablegt, mit dem man sonst über das Unerklärliche redet, und daß
    man doch nicht erliegt, sondern alles dankbar annimmt und sich bescheiden
    und stolz als Gast des Weltalls fühlt.
    Am Saum des Waldes flog mit lautklatschendem Flügelschlag ein Wildhuhn
    vor mir aus dem Unterholz. Braune Brombeerblätter an langen Ranken hingen
    über den Weg herein, und auf jedem Blatt lag seidig der durchsichtig dünne
    Reif, silbrig flimmernd wie die feinen Härchen auf einem Stück Sammet.
    Als ich nach längerem Steigen im Wald eine Höhe und eine aussichtsreiche
    freie Halde erreichte, kannte ich mich bald wieder in der Landschaft aus. Den Namen des Dörfleins, in dem ich genächtigt hatte, wußte ich aber nicht und
    habe auch nicht nach ihm gefragt.
    Mein Weg führte am Rand des Waldes weiter, der hier die Wetterseite hat-
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    te, und ich fand meine Kurzweil an den kühnen, bedeutungsvoll grotesken
    Formen der Stämme, Äste und Wurzeln. Nichts kann die Phantasie stärker
    und inniger beschäftigen. Zuerst herrschen meistens komische Eindrücke vor:
    Fratzen, Spottgestalten, und Karikaturen bekannter Gesichter werden in Wur-
    zelverschlingungen, Erdspalten, Astgebilden, Laubmassen erkennbar. Dann ist
    das Auge geschärft und sieht, ohne zu suchen, ganze Heere von wunderlichen
    Formen. Das Komische verschwindet, denn alle diese Gebilde stehen so ent-
    schlossen, keck und unverrückbar da, daß ihre schweigende Schar bald Ge-
    setzmäßigkeit und ernste Notwendigkeit verkündet. Und endlich werden sie
    unheimlich und anklagend. Es ist nicht anders, der wandelbare und masken-
    tragende Mensch erschrickt, sobald er ernsthaft zusieht, vor den Zügen jedes natürlich Gewachsenen.
    Ilgenberg
    Das Dorf, das ich nach zwei Stunden auf Fußwegen erreichte, hieß Schluchter-
    singen und war mir von einem früheren Besuch her bekannt. Als ich durch die
    Dorfgasse schritt, sah ich vor einem neugebauten Gasthof einen Wagen ste-
    hen und erkannte sofort das Gefährt des Kaufmanns aus Ilgenberg und sein
    kleines, sonderbar geflecktes Pferd.
    Er selber trat gerade aus der Türe, um wieder einzusteigen, als er mich
    daherkommen sah. Sogleich grüßte er lebhaft und winkte mir zu.
    Ich habe hier noch Geschäfte gehabt, fahre jetzt aber direkt nach Ilgen-
    berg. Wollen Sie nicht mitkommen? Das heißt, wenn Sie nicht lieber zu Fuß
    gehen.
    Er sah so gutmütig aus, und mein Verlangen nach dem Ziel meiner Reise
    war allmählich so gespannt, daß ich annahm und einstieg. Er gab dem Haus-
    knecht ein Trinkgeld, nahm die Zügel und fuhr los. Der Wagen lief leicht und bequem auf der guten Straße, und mir tat nach tagelangem Fußgängertum
    das herrschaftliche Gefühl des Fahrens wohl.
    Wohl tat mir auch, daß der Kaufmann keine Versuche machte, mich auszu-
    fragen. Ich wäre sonst sogleich wieder ausgestiegen. Er fragte nur, ob ich auf einer Erholungsreise sei und ob ich die Gegend schon kenne.
    Wo steigt man denn jetzt in Ilgenberg am besten ab?
    fragte ich.
    Früher war der Hirschen gut; der Besitzer hieß Böliger.
    Der lebt nimmer. Die Wirtschaft hat jetzt ein Fremder, ein Bayer, und sie
    soll zurückgegangen sein. Doch will ich das nicht beschwören, ich hab’s vom
    Hörensagen.
    Und wie ist’s mit

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