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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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wohlbekannten Namen auf den La-
    denschildern, ließ mich rasieren, kaufte einen Bleistift, sah an den Häusern hinauf und strich an den Zäunen hin durch die ruhigen Gartenwege der Vorstadt. Eine Ahnung beschlich mich, daß meine Ilgenberger Reise eine große
    Torheit gewesen sei, und doch schmeichelten mir Luft und Boden heimat-
    lich und wiegten mich in schöne Erinnerungen. Ich ließ keine einzige Gasse
    unbesucht, stieg auf den Kirchturm, las die ins Gebälk des Glockenstuhls ge-
    schnitzten Lateinschülernamen, stieg wieder hinunter und las die öffentlichen Anschläge am Rathaus, bis es anfing zu dunkeln.
    Dann stand ich auf dem unverhältnismäßig großen, öden Marktplatz, schritt
    die lange Reihe der alten Giebelhäuser ab, stolperte über Vortreppen und Pfla-sterlücken und hielt am Ende vor dem Herschelschen Hause an. Am kleinen
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    Laden wurden gerade die Rolläden heruntergelassen, im ersten Stockwerk hat-
    ten vier Fenster Licht. Ich stand unschlüssig da und schaute am Haus hinauf, müde und beklommen. Ein kleiner Junge marschierte den Platz herauf und
    pfiff den Jungfernkranz; als er mich dastehen sah, hörte er zu pfeifen auf und sah mich beobachtend an. Ich schenkte ihm zehn Pfennig und hieß ihn weitergehen. Dann kam ein Lohndiener und bot sich mir an.
    Danke , sagte ich, und plötzlich hatte ich den Glockenzug in der Hand
    und schellte kräftig.
    Julie
    Die schwere Haustür ging zögernd auf, im Spalt erschien das Gesicht einer
    jungen Dienstmagd. Ich fragte nach dem Hausherrn und wurde eine dunkle
    Treppe hinaufgeführt. Im Gang oben brannte ein Öllicht, und während ich
    meine angelaufene Brille abnahm, kam Herschel heraus und begrüßte mich.
    Ich wußte, daß Sie kommen würden , sagte er halblaut.
    Wie konnten Sie das wissen?
    Durch meine Frau. Ich weiß, wer Sie sind. Aber legen Sie, bitte, ab. Hier,
    wenn ich bitten darf. – Es ist mir ein Vergnügen. O, bitte. So, ja.
    Es war ihm offenbar nicht sonderlich wohl, und mir auch nicht.
    Wir traten in ein kleines Zimmer, wo auf dem weißgedeckten Tisch eine
    Lampe brannte und zum Abendessen serviert war.
    Hier also. Meine Bekanntschaft von heute morgen, Julie. Darf ich vorstel-
    len, Herr – –
    Ich kenne Sie , sagte Julie und erwiderte meine Verbeugung durch ein
    Nicken, ohne mir die Hand zu geben.
    Nehmen Sie Platz.
    Ich saß auf einem Rohrsessel, sie auf dem Diwan. Ich sah sie an. Sie war
    kräftiger, schien aber kleiner als früher. Ihre Hände waren noch jung und fein, das Gesicht frisch, aber voller und härter, noch immer stolz, aber gröber und glanzlos. Ein Schimmer von der ehemaligen Schönheit war noch vorhanden,
    an den Schläfen und in den Bewegungen der Arme, ein leiser Schimmer – –
    Wie kommen Sie denn nach Ilgenberg?
    Zu Fuß, gnädige Frau.
    Haben Sie Geschäfte hier?
    Nein, ich wollte nur die Stadt wieder einmal sehen.
    Wann waren Sie denn zuletzt hier?
    Vor zehn Jahren. Sie wissen ja. Übrigens fand ich die Stadt nicht allzusehr
    verändert.
    Wirklich? Sie hätte ich kaum wiedererkannt.
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    Ich Sie sofort, gnädige Frau.
    Herr Herschel hustete.
    Wollen Sie nicht zum Abendessen bei uns vorliebnehmen?
    Wenn es Sie nicht stört –
    Bitte sehr, nur ein Butterbrot.
    Es gab jedoch kalten Braten mit Gallerte, Bohnensalat, Reis und gekochte
    Birnen. Getrunken wurde Tee und Milch. Der Hausherr bediente mich und
    machte ein wenig Konversation. Julie sprach kaum ein Wort, sah mich aber
    zuweilen hochmütig und mißtrauisch an, als möchte sie herausbringen, warum
    ich eigentlich gekommen sei. Wenn ich es nur selber gewußt hätte!
    Haben Sie Kinder?
    fragte ich, und nun wurde sie ein wenig gesprächiger.
    Schulsorgen, Krankheiten, Erziehungssorgen, alles im besseren Philisterstil.
    Ein Segen ist ja die Schule trotz alledem doch , sagte Herschel dazwischen.
    Wirklich? Ich dachte immer, ein Kind sollte möglichst lange ausschließlich
    von den Eltern erzogen werden.
    Man sieht, Sie selber haben keine Kinder.
    Ich bin nicht so glücklich.
    Aber Sie sind verheiratet?
    Nein; Herr Herschel, ich lebe allein.
    Die Bohnen würgten mich, sie waren schlecht entfädet.
    Als das Essen abgetragen war, schlug der Mann eine Flasche Wein vor, was
    ich nicht ablehnte. Wie ich gehofft hatte, ging er selber in den Keller, und ich blieb eine Weile mit der Frau allein.
    Julie , sagte ich.
    Was beliebt?
    Sie haben mir noch nicht einmal die Hand gegeben.
    Ich hielt es für richtiger –
    Wie Sie wollen. – Es freut mich zu sehen, daß es Ihnen

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