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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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erschreckend deutlich.
    Wie ein Ding dem andern und ein Mensch dem andern, er sei wer er wolle,
    im Grunde unerbittlich fremd ist, und wie unsere Wege immer nur für we-
    nige Schritte und Augenblicke sich kreuzen und den flüchtigen Anschein der
    Zusammengehörigkeit, Nachbarlichkeit und Freundschaft gewinnen.
    Verse fielen mir ein, und ich sagte im Gehen leise vor mich hin:
    Seltsam, im Nebel zu wandern!
    Einsam ist jeder Busch und Stein,
    Kein Baum sieht den andern,
    Jeder ist allein.
    Voll von Freunden war mir die Welt,
    Als noch mein Leben licht war;
    Nun, da der Nebel fällt,
    Ist keiner mehr sichtbar.
    Wahrlich, keiner ist weise,
    Der nicht das Dunkel kennt,
    Das unentrinnbar und leise
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    Von allen ihn trennt.
    Seltsam, im Nebel zu wandern!
    Leben ist Einsamsein.
    Kein Mensch kennt den andern,
    Jeder ist allein.
    (1906)
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    In einer kleinen Stadt
    Esser werden nicht alt. So wohl der Notar Trefz mit seinen sechzig Jahren
    aussah und so sehr er am Leben hing, eines Mittags im Mai traf ihn der Schlag, und am nächsten Morgen trug schon der Leichenbitter mit seinem Gehilfen
    die Nachricht von seinem Tode durch die erstaunte Stadt.
    Ja lieber Gott, der
    Trefz , hieß es überall.
    Man darf doch keinem mehr trauen. Überhaupt, die
    alten guten Bürgersleute sterben halt allmählich weg, erst voriges Jahr noch der Schiffwirt, und jetzt der Notar Trefz!
    An diesem Vormittag hatte es die Witwe nicht ruhig. Zwei alte Freundin-
    nen, die ihr beizustehen gekommen waren, brachten die verzagte Frau durch
    die Aufzählung aller Verpflichtungen und alles dessen, was durchaus nicht
    vergessen werden durfte, in Verwirrung und taten selber wenig als reden und
    trösten. Und eben dieses wäre entbehrlich gewesen, denn die Frau Notarin hat-te keinen Grund, untröstlich zu sein, und war es auch nicht. Aber sie war vom schnellen Erleben betäubt, von den plötzlich entstandenen Witwenpflichten
    und Trauersorgen beängstigt und bewegte sich in der ungewohnten Freiheit
    nur schüchtern und traumbefangen, während nebenan im Schlafzimmer ihr
    Tyrann und Quälgeist stillelag, dessen Tod und Ungefährlichkeit sie immer
    wieder für Augenblicke vergaß und dessen ärgerlich befehlende Stimme wieder
    zu hören sie immerzu gewärtig war. Erschrocken und beklommen ging sie hin
    und wider, und so lebhaft es im Hause war, schien es ihr doch seltsam still zu sein. Der Notar war nicht leicht gestorben. Als ein kräftiger und stolzgesinnter Mensch, der sein Leben lang befohlen hatte und an gute Tage gewöhnt war,
    hatte er sich dem Tod nicht ohne Groll und Fluchen ergeben und war schließ-
    lich in wahrer Verzweiflung gestorben, da er nicht einsah, warum er nun, wo
    die wahrhaft guten Zeiten der Altersruhe bevorstanden, mitten aus seinem
    Leben und Besitz hinweg solle. Obwohl seine laute Stimme schon gebrochen
    und sein Blick schon getrübt war, hatte er bis zum letzten Augenblick gezürnt und gescholten und sein Weib für alles verantwortlich gemacht.
    Im Erdgeschoß des zweistöckigen schönen Hauses war es feierlich still. Dort
    lag die Amtsstube des Verstorbenen, die nun geschlossen war, und der Gehilfe und der Lehrling gingen in Sonntagskleidern, verlegen-froh über den unerwartet eingetroffenen Feiertag, in der Stadt spazieren.
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    Die ganze Stadt wußte nun von dem Todesfall, und wer über den oberen
    Markt ging, unterließ es nicht, aufmerksam und neugierig nach dem Trau-
    erhause zu schauen, das seit Jahrzehnten dastand und das alle tausendmal
    gesehen hatten und an dem heute doch jeder einen Schein von Ungewohntem,
    von Feierlichkeit und großem Ereignis wahrnehmen konnte. Im übrigen war
    an dem Haus nichts Auffallendes zu bemerken als die geschlossenen Läden
    des Erdgeschosses, die ihm etwas halbschlafend Sonntägliches gaben. Die hel-
    le, beinahe sommerliche Sonne schien klar und weiß auf den Marktplatz und
    auf die Häuser, auf die Brunnen und Bänke, und malte treulich neben jeden
    Fensterladen, neben jede Vortreppe, jedes Scharreisen einen kleinen Schatten.
    Der große Neufundländerhund von der oberen Apotheke hatte seinen vorneh-
    men Platz neben dem alten, vorgeneigten Prellstein an der Marktecke inne,
    an den Läden des Buchhändlers und des Hutmachers waren die neumodischen
    Markisen herabgelassen, hoch vom Bühel herab aus den Schulhäusern klang
    Knabengesang dünn und leicht durch die fröhliche Luft.
    Gegen Mittag, noch ehe die Schulen sich auftaten und den sonnigen, stillen
    Platz überfluteten, kam um die Ecke

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