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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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andern hob Lautenschlager an
    seiner Nadel bedächtig heraus, drehte ihn begutachtend vor seinen Augen und
    legte ihn zur weiteren Behandlung beiseite. Dabei ging in seinem scharfen
    Malerblick eine knabenhafte Freude und beglückte Kindlichkeit auf, die nie-
    mand dem einsamen und oft boshaften Menschen zugetraut hätte, und über
    sein mageres, ironisches Gesicht lief wie Morgenlicht ein leiser Glanz von Güte und Dankbarkeit.
    Wie es ein jeder rechte Künstler nötig hat, er sei sonst von welcher Art er
    möge, so hatte auch Lautenschlager durch alles Gestrüpp seines unbefriedig-
    ten und flackernden Lebens sich einen Weg bewahrt, auf dem er jederzeit für
    Augenblicke in das Land seiner Kinderjahre zurückkehren konnte, wo für ihn
    wie für jeden Menschen Morgenglanz und Quelle aller Kräfte verborgen lag,
    und das er niemals ohne Andacht betrat. Für ihn war es der zauberhafte Far-
    benschmelz frischer Schmetterlingsflügel und golden gleißender Käferschilder, der ihm mit Schlüsseln der Erinnerung das Paradiestor öffnete und dessen
    Anblick seinen Augen für Stunden die Frische und dankbare Empfänglichkeit
    der Knabenzeiten wiedergab.
    Vorsichtig trug er seinen Schatz in das kleine Nebenzimmer, wo in zwei
    großen Wandschränken seine ganze Insektensammlung aufbewahrt ruhte und
    dessen Arbeitstisch mit Spannbrettern, Nadelkartons, Steckkissen, Papierstreifen, Pinzetten, Scheren, Benzingläschen, kleinsten Zangen und anderen Werk-
    zeugen eines wohlausgerüsteten Insektensammlers bedeckt war. Er ging so-
    gleich daran, die gespießten Käfer in die Kästen der Sammlung einzureihen,
    die Schmetterlinge aber mit geduldiger Sorgfalt auf Spannbrettern auszuspan-
    nen. Da blickten ihn entfaltet die wunderbaren Flügel an, braune und graue,
    wollige mit matt gepuderten Farben, silbern weiße mit kristallenen Adern
    und frohfarbige mit metallen leuchtendem Email. Für seine Augen waren die-
    se Schmetterlingsflügel das Schönste von allem, was ein Auge sehen kann, wie andre empfängliche Menschen etwa Blumen oder Moose oder die Farben der
    Meeresoberfläche allem anderen Augengenuß vorziehen, und bei ihrem Anblick
    gewann er das, was ihm seit Jahren fehlte, für Augenblicke wieder, nämlich das kindlich zufriedene Wohlgefallen an den Gegenständen der Natur, das Gefühl
    von Zugehörigkeit und Schöpfungsnähe, das man nur im Lieben und genauen
    Verstehen natürlicher Dinge zu finden vermag.
    Als indessen der Abend kam, versorgte er seine Beute in einigen Blechkästen
    zwischen befeuchteten Papierblättern, um sie geschmeidig zu erhalten, dann
    holte er sich eine Flasche Wein aus dem Keller, Brot und Käse nebenan im
    Laden, aß auf dem Fensterbrett sitzend mit dem Blick auf die abendliche
    Gasse und zündete sodann die kleine Studierlampe an. Über ein volles Skiz-
    zenbuch gebeugt, ging er künftigen Arbeitsplänen nach, wie ja solche gute
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    Stunden nach der Heimkehr von einer befreienden Wanderung oft die besten
    Gedankenbringer sind.
    In seinem Skizzenbuch fand sich die Gestalt des Dr. Trefz vieroder fünfmal
    wieder, sie war ihm unvermeidlich geworden, und er fühlte mit Befriedigung,
    daß er in ihr den reinen Typ des Gerbersauer Philisters gefunden habe. Indem nun seine Gedanken, an keinem vereinzelten Bilde haftend und durch die friedliche Abendbeschäftigung gegen das Tal der Jugenderinnerungen gerichtet, die heimatlichen Figuren liebevoll umspielten, stand plötzlich mit überraschender Deutlichkeit das Bild des jungen Trefz vor ihm auf, wie er als Schulknabe gewesen war, ja er vermochte sich seiner noch aus der Zeit zu erinnern, da der jetzige Notar die ersten Hosen getragen hatte.
    Oft schon hatte der Maler bis zur Verzweiflung darunter gelitten, daß eine
    zähe Anhänglichkeit ihn immer wieder und wieder nötigte, die kleinbürgerliche Welt seiner Vaterstadt in einzelnen Figuren festzuhalten, ohne daß es ihm je gelungen war, in einer irgendwie abschließenden Arbeit diese Welt für immer
    zu bezwingen und sich vom Hals zu schaffen, und mehrmals im Laufe der
    Jahre hatten ihn Pläne beschäftigt, die darauf zielten, ihn in einer gesteigerten Leistung von diesem Zwang zu befreien. Nun stand ein solcher Plan ungesucht
    vor seiner Vorstellung, aus hundert Quellen der Beobachtung und Erinnerung
    bis in Kinderjahre zurück genährt und bestimmt, verlockend und schwierig,
    und er griff alsbald mit ganzer Seele danach.
    Der Baumeister, der nach mühsamen Versuchen im guten Augenblick den
    klaren

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