Die Erzaehlungen 1900-1906
Zunft übergeben und wartete sodann eine gute Weile verge-
bens auf Antwort, indessen die Zunftherren den Anlaß zu mehreren Sitzungen,
Frühstücken und kleinen Gelagen wahrnahmen.
Endlich aber bekam Trefz einen zierlichen, prachtvoll kalligraphierten Brief mit dem schweren Zunftsiegel. Begierig schloß er sich in seiner Schreibstube ein, entfaltete und las, und war selbst jetzt noch einen Augenblick im Unge-wissen, ob es sich um Ernst oder Spaß handle. Dann aber wurde ihm klar,
daß er zum Narren gehabt worden sei, und es gab fortan in Gerbersau keinen
heftigeren Gegner der Zunft als ihn. Das Schreiben hatte gelautet:
Hockgeehrter Herr Doktor!
Ihr Antrag ist der wohledlen Zunft von Färbern zu Händen gekommen und
fühlen wir die Ehre wohl, die uns damit angetan wird. Mit großem Vergnügen
wären wir bereit, Ihrem werten Ansuchen zu entsprechen, wenn nicht früher
gefaßte Entschließungen uns dies leider erschweren würden.
Unsre wohledle Zunft von Färbern besteht, wie Ihnen wohl bekannt, zur Zeit
aus nur drei Mitgliedern, welche alle drei sich des Ehestandes enthalten haben, so daß nach ihrem einstigen Ableben die Zunft erlischt und ihre Habe der Stadt Gerbersau zufällt. Dies ist unser aller Meinung und Wille, und was nun Ihre
werte Anfrage betrifft, so sind wir mit Freuden bereit, Sie, kochgeehrter Herr, 470
in unsre Zunft aufzunehmen, wenn wir die Gewißheit haben, daß hierdurch
unsere früheren Absichten nicht geschädigt werden.
Wir haben daher die Ehre Ihnen mitzuteilen, daß Ihrer Aufnahme nichts
entgegensteht, sofern Sie bei erfolgendem Eintritt sich schriftlich und eidlich verpflichten, niemals in den Ehestand zu treten. Sollte diese einzige Bedingung Ihren Beifall nicht haben, so müßten wir allerdings zu unserem Bedauern auf
die Ehre verzichten, die Ihr Beitritt uns andernfalls bedeuten würde.
Seit im >Hans Sachs< seine von Lautenschlager gezeichnete Karikatur erschienen war, hatte Trefz einen solchen Ärger nicht mehr erlebt. Den Gruß des
Herrn Dreiß, der ihm andern Tags begegnete und mit dem freundlichsten
Lächeln den Hut zog, hätte er am liebsten mit einem Faustschlag beantwor-
tet.
Hier endet das Manuskript
(1906/07)
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Nachwort des Herausgebers
Das erzählerische Werk von Hermann Hesse – rechnet man seine Märchen
und Legenden hinzu – ist kaum weniger facetten- und umfangreich als das
seiner Romane. Wie diese umfaßt es vier Bände unserer Gesamtausgabe.
Doch kaum die Hälfte der hier versammelten Erzählungen hat der Dichter
selbst in die 1952/57 von ihm besorgte Ausgabe seiner Gesammelten Schrif-
ten aufgenommen. Denn manches ist Fragment geblieben, anderes schien ihm
der Überlieferung nicht würdig. Von den insgesamt roh erzählerischen Ar-
beiten (außer den in dem Band der Jugendschriften enthaltenen Texten),
sind die meisten zuerst in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden (siehe den Quellennachweis am Ende des Bandes). Nur eine Auswahl davon
hat Hesse in seine Erzählbände Diesseits (1907), Nachbarn (1908) Umwe-
ge (1912), Klingsors letzter Sommer (1920), Kleine Welt (1933) und Fabu-
lierbuch (1935) einbezogen. Andere Erzählungen erschienen gemeinsam mit
Betrachtungen und autobiographischen Schilderungen in Sammelbänden wie
Am Weg (1915), Kleiner Garten (1919), Sinclairs Notizbuch (1923), Bilder-
buch (1926), Späte Prosa (1951) und Beschwörungen (1955). Zwei weitere,
eigens als Erzählbände konzipierte Sammlungen sind nie erschienen. So ver-
merkt das umfangreiche handschriftliche Verzeichnis
Auswärts angebotene
Manuskripte , das Hesse vom Dezember 1901 bis Mai 1962 führte und das sich
(mit Ausnahme der Jahrgänge 1906 bis Juni 1910) erhalten hat, am 3.5.1902
das Manuskript eines Novellenbandes
Spiegelungen , das er damals ohne
Erfolg dem Leipziger Verlag Seemann gesandt hatte. Auch ein Band
Kleine
Erzählungen
mit 26 Geschichten, die Hesse 1924 zusammenstellte, konnte
nicht realisiert werden. Einige dieser Arbeiten wurden drei Jahre nach dem
Tod des Dichters von seiner Witwe Ninon Hesse in dem Band Prosa aus dem
Nachlaß 1965 veröffentlicht, anderes in den 1973 erschienen Sammelausgaben
Die Erzählungen und Gesammelte Erzählungen, 1977.
Die vorliegende auf Vollständigkeit bedachte Edition berücksichtigt auch
die vielen anderen, nur in Zeitungen und Zeitschriften (oft unter verschiedenen Titeln) veröffentlichten Arbeiten und acht weitere unvollendet gebliebene Geschichten, die vorwiegend
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