Die Erzaehlungen 1900-1906
aus Hesses zweiter Lebenshälfte stammen. Daß
sie Fragment blieben, dafür gab es triftige Gründe, denn seit dem Ersten Welt-473
krieg hatte sich vieles geändert und differenziert in seinem Leben und Weltbild.
Mit dem unbefangenen Schildern der Vorkriegsjahre war es vorbei. Der selbst-
kritische Blick ins Chaos (Titel eines 1920 erschienen Bändchens mit seinen
Dostojewski-Essays) brachte ihm bisher unerreichte erzählerische Freiheiten, aber auch Komplikationen und Widerstände, die sich nicht mehr in der Kurz-form der Erzählung, sondern eher in größeren epischen Zusammenhängen, in
Tagebüchern oder Bekenntnisschriften wie
Kurgast
und
Nürnberger Rei-
se
meistern ließen.
So ist es nicht verwunderlich, daß der größte Teil von Hesses Erzählungen
zwischen 2900 und 1914 entstand und nur ein knappes Drittel in den Jahr-
zehnten danach. Obwohl in diesen letzten Zeitraum so bedeutende Novel-
len wie
Kinderseele ,
Klein und Wagner
und
Klingsors letzter Som-
mer
fallen, die man wie Unterm Rad, Demian und Der Steppenwolf als
Seelenbiographien bezeichnen könnte, sind die Erzählungen aus Hesses er-
ster Lebenshälfte, die sich mit Außenseitern, sperrigen Originalen und wi-
dersprüchlichen Persönlichkeiten befassen, thematisch ungleich reicher. Ein
Bilderbogen der unterschiedlichsten Naturelle und Schicksale wird darin aus-
gebreitet, der nicht nur die Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen spiegelt, sondern zugleich ein unwiederbringliches Stück deutscher Vergangenheit. Wohl nirgendwo sonst findet man das Leben, die Sprachen und Sitten der fahrenden Handwerksleute und gleichzeitig den Umbruch der vorindustriellen Welt
im süddeutschalemannischen Raum am Ende des 19. Jahrhunderts vom Agrar-
und Handwerkeralltag zum Fabrikzeitalter derart eindringlich und anschau-
lich dargestellt wie in diesen Kleinstadtschilderungen. Hier ist der Lokalgeist so gegenwärtig, daß man sich nicht nur in die Zeit vor der Jahrhundertwende
zurückversetzt, sondern zugleich einbezogen fühlt in einen Reichtum zwischenmenschlicher Beziehungen, der mittlerweile in den betonierten Einzelzellen
unserer Ballungszentren fast ganz verlorengegangen ist. Man kannte einander
nicht bloß vom Hörensagen, sondern wie Menschen sich kennen, die aufein-
ander angewiesen sind. Aber noch stärker treten auch die Schattenseiten der
provinziellen Nähe: Klatschsucht, Mißgunst, Engherzigkeit und Aversionen
gegen alles Andersartige hervor.
Beginnend mit autobiographischen, zumeist in Ich-Form erzählten Remi-
niszenzen aus Hesses Maulbronner Seminaristenzeit ( Erwin ), und Kind-
heitserinnungen ( Der Kavalier auf dem Eise ,
Der Hausierer ,
Ein Kna-
benstreich ), die er zuerst einem
Calwer Tagebuch
anvertraut hat, kehren
seine späten Erzählungen aus den vierziger und fünfziger Jahren ( Der Bett-
ler ,
Unterbrochene Schulstunde
und
Ein Maulbronner Seminarist ) auf
komplexerer Entwicklungsstufe wieder zu diesen Anfängen zurück. Dazwischen
liegt ein vielgestaltiger Kosmos voll erlebter, erfundener oder durch Identifikation vergegenwärtigter literarischer und historischer Stoffe, der Hesse, auch 474
quantitativ, als einen der produktivsten Erzähler seiner Generation ausweist.
Thematisch könnte man dieses Werk sechs unterschiedlichen, sich gelegent-
lich überschneidenden Gruppen zuordnen. Die ergiebigste entfällt auf die in
seinem Geburtsstädtchen Calw spielenden Geschichten. Es sind teils autobio-
graphische, teils nach dem Leben gezeichnete Milieu- und Charakterstudien
aus dem Alltag einer schwäbischen Kleinstadt, die Gerbersau genannt wird,
nach den Gerbereibetrieben, die noch in Hesses Kindheit das Hauptgewerbe
im Ort waren und die Ufer des heimatlichen Flüßchens Nagold besiedelten.
Man hat diese Geschichten immer wieder mit Gottfried Kellers Erzählungen
Die Leute aus Seldwyla (1856) verglichen, was auf die anschaulichen und oft
humorvollen Genrebilder dieser Schilderungen zwar zutrifft, nicht aber auf
den Ortsnamen, der bei Gottfried Keller weniger eindeutig lokalisierbar ist
wie Hesses Gerbersau. Doch gemeinsam ist ihnen, daß Seldwyla wie Gerber-
sau uns merkwürdig vertraut vorkommen, obwohl sie auf keiner Landkarte zu
finden sind. Die Realität wird zur Fiktion, der geographische Ort zum Pro-
totyp, der für Hesse ein
Vorbild und Urbild aller Menschenheimaten und
Menschengeschicke
war.
Den zweitgrößten Teil der Erzählungen bilden erfundene Geschichten, die
oft
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