Die Erzaehlungen 1900-1906
ins Bett steckte, wo ich mir na-
menlos unglücklich vorkam, aber bald unter noch rinnenden Tränen einschlief.
Als ich wieder, vermutlich am folgenden Morgen, in des Brosi Krankenstu-
be stand, hatte seine Mutter beständig den Finger am Mund und sah mich
warnend an, der Brosi aber lag mit geschlossenen Augen leise stöhnend da.
Ich schaute bang in sein Gesicht, es war bleich und vom Schmerz verzogen.
Und als seine Mutter meine Hand nahm und sie auf seine legte, machte er die
Augen auf und sah mich eine kleine Weile still an. Seine Augen waren groß
und verändert, und wie er mich ansah, war es ein fremder wunderlicher Blick
wie aus einer weiten Ferne her, als kenne er mich gar nicht und sei über mich verwundert, habe aber zugleich andere und viel wichtigere Gedanken. Auf den
Zehen schlich ich nach kurzer Zeit wieder hinaus.
Am Nachmittag aber, während ihm auf seine Bitte die Mutter eine Geschich-
te erzählte, sank er in einen Schlummer, der bis an den Abend dauerte und
währenddessen sein schwacher Herzschlag langsam einträumte und erlosch.
Als ich ins Bett ging, wußte es meine Mutter schon. Doch sagte sie mir’s
erst am Morgen, nach der Milch. Darauf ging ich den ganzen Tag traumwan-
delnd umher und stellte mir vor, daß der Brosi zu den Engeln gekommen und
selber einer geworden sei. Daß sein kleiner magerer Leib mit der Narbe auf
der Schulter noch drüben im Hause lag, wußte ich nicht, auch vom Begräbnis
sah und hörte ich nichts.
Meine Gedanken hatten viel Arbeit damit, und es verging wohl eine Zeit,
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bis der Gestorbene mir fern und unsichtbar wurde. Dann aber kam früh und
plötzlich der ganze Frühling, über die Berge flog es gelb und grün, im Garten roch es nach jungem Wuchs, der Kastanienbaum tastete mit weich gerollten
Blättern aus den aufgesprungenen Knospenhüllen, und an allen Gräben lach-
ten auf fetten Stielen die goldgelben glänzenden Butterblumen.
(1903/1904)
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Die Marmorsäge
Es war so ein Prachtsommer, in dem man das schöne Wetter nicht nach Tagen,
sondern nach Wochen rechnete, und es war noch Juni, man hatte gerade das
Heu eingebracht.
Für manche Leute gibt es nichts Schöneres als einen solchen Sommer, wo
noch im feuchtesten Ried das Schilf verbrennt und einem die Hitze bis in die Knochen geht. Diese Leute saugen, sobald ihre Zeit gekommen ist, so viel
Wärme und Behagen ein und werden ihres meist ohnehin nicht sehr betrieb-
samen Daseins so schlaraffisch froh, wie es andern Leuten nie zuteil wird. Zu dieser Menschenklasse gehöre auch ich; darum war mir in jenem Sommeran-fang auch so mächtig wohl, freilich mit starken Unterbrechungen, von denen
ich nachher erzählen werde.
Es war vielleicht der üppigste Juni, den ich je erlebt habe, und es wäre bald Zeit, daß wieder so einer käme. Der kleine Blumengarten vor meines Vetters
Haus an der Dorfstraße duftete und blühte ganz unbändig; die Georginen, die
den schadhaften Zaun versteckten, standen dick und hoch und hatten feiste
und runde Knospen angesetzt, aus deren Ritzen gelb und rot und lila die
jungen Blütenblätter strebten. Der Goldlack brannte so überschwenglich ho-
nigbraun und duftete so ausgelassen und sehnlich, als wüßte er wohl, daß seine Zeit schon nahe war, da er verblühen und den dicht wuchernden Reseden Platz
machen mußte. Still und brütend standen die steifen Balsaminen auf dicken,
gläsernen Stengeln, schlank und träumerisch die Schwertlilien, fröhlich hellrot die verwildernden Rosenbüsche. Man sah kaum eine Handbreit Erde mehr,
als sei der ganze Garten nur ein großer, bunter und fröhlicher Strauß, der
aus einer zu schmalen Vase hervorquoll, an dessen Rändern die Kapuziner in
den Rosen fast erstickten und in dessen Mitte der prahlerisch emporflammen-
de Türkenbund mit seinen großen geilen Blüten sich frech und gewalttätig
breitmachte.
Mir gefiel das ungemein, aber mein Vetter und die Bauersleute sahen es
kaum. Denen fängt der Garten erst an, ein wenig Freude zu machen, wenn
es dann herbstelt und in den Beeten nur noch letzte Spätrosen, Strohblumen
und Astern übrig sind. Jetzt waren sie alle tagtäglich von früh bis spät im
Feld und fielen am Abend müde und schwer wie umgeworfene Bleisoldaten in
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die Betten. Und doch wird in jedem Herbst und in jedem Frühjahr der Garten
wieder treulich besorgt und hergerichtet, der nichts einbringt und den sie in seiner schönsten Zeit kaum ansehen.
Seit zwei Wochen stand ein heißer,
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