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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Wenn Sie einen Burschen brauchen …« Der Mann musterte ihn verärgert. Er hatte ein stumpfes Gesicht, unter seiner überfrachteten Perücke war die Glatze zu erahnen. Er zögerte, kam einen Schritt näher, fasste Gaspard am Kinn, drehte sein Gesicht mit argwöhnischem Blick erst nach links und dann nach rechts. Danach trat er zurück, betrachtete ihn wieder von Kopf bis Fuß, fordernd. Gaspard erriet, dass er seine Muskeln begutachtete. »Vom Bettelpack hab ich genug«, sagte er mit leidender Stimme. »Ich bin kein Bettler, Monsieur, ich …«, versuchte sich Gaspard zu rechtfertigen, bevor ihm der Mann ins Wort fiel. »Woher kommst du?« – »Aus Quimper, Monsieur.« Der andere schien nachzudenken. »Ich seh schon. Du bist dreckig wie ein Stallknecht«, sagte er naserümpfend, das Wort mit Nachdruck aussprechend. Gaspard senkte den Blick aufs Pflaster. Ein Grüppchen Männer ging dicht an ihnen vorbei, sang aus voller Kehle einen anzüglichen Reim. Die Schneiderinnen aus dem angrenzenden Laden kamen heraus, um das Geschehen zu verfolgen, warfen einen kurzen Blick auf Gaspard, und der Mann grüßte sie mit einem Kopfnicken. »Gut, einen Probemonat. In dieser Zeit kein Gehalt: Du bekommst Kost und Logis. Um sechs wird aufgestanden, keine Verspätung, gearbeitet wird bis neunzehn Uhr. Und natürlich muss diese« – er deutete mit einem fuchtelnden Finger auf Gaspard –, »diese Aufmachung weg, sonst verscheuchst du mir ja die Kunden. Da fällt mir ein, wie heißt du eigentlich?« – »Gaspard«, antwortete er, während der Mann bereits die Stufen der Vortreppe zu seinem Laden hinaufging; ein reicher, lächerlicher Bourgeois, der sein Podium besteigt. »Vorzüglich, Gaspard. Ich hoffe, du hast dir gut gemerkt« – er zeigte mit dem Kinn zur Straßenecke, wo der Jugendliche wenige Minuten zuvor verschwunden war –, »dass ich nicht den geringsten Verstoß dulde.« – »In Ordnung, Monsieur.« – »Ausgezeichnet, Gaspard, ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet.« Er fingerte an den Kringeln seine Perücke herum und durchsetzte die Luft mit Moschusduft. Die Tür führte zu einer steilen Treppe. Er gab Gaspard ein Zeichen, ihm zu folgen, und als er sah, dass der Junge zögerte, kehrte er mit bestimmtem Schritt zurück: »Verzeihung, ich vergaß« – er streckte eine kleine, fette, weiße Hand aus –, »Justin Billod, Perückenmacher.« Gaspard ergriff die Hand, die sich bereits entzog, und bekam nur das Ende eines Fingerglieds zu fassen, das Billod ungeniert abwischte. Er stürzte die Treppe hinauf, forderte Gaspard auf, ihm zu folgen, und verschwand auf der Stelle, von den Stufen verschluckt. Bevor Gaspard die Türschwelle übertrat, warf er einen Blick auf die Straße zurück, völlig sprachlos, dass sich ihm eine solche Gelegenheit eröffnete. Es gab keinen Zweifel, das war ein Zeichen, wenn nicht der Vorsehung, so doch wenigstens des Zufalls. Wieder packte ihn die Erregung: Die Straße, von der heißen Septembersonne überflutet, erschien ihm in einem völlig neuen Licht. Er vergaß, dass er noch vor wenigen Augenblicken im Begriff gewesen war, zu Lucas zurückzukehren. Das Viertel wirkte mit einem Mal einladend, wie in seinen kühnsten Hoffnungen. In einem Anflug von Begeisterung bekam Gaspard die Gewissheit, durch eine obskure Chance seinen Traum bald verwirklicht zu haben, seine Ambition eines erfolgreichen Lebens. Paris, durch seine Hartnäckigkeit endlich erobert, entschloss sich, ihm eine andere seiner so sehr herbeigesehnten Facetten anzubieten. Als er die Treppe betrat und die Stufen in Richtung von Justin Billods Werkstatt hinaufging, dachte Gaspard schon nicht mehr an Lucas und auch nicht mehr an den Fluss. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Paris, im Schatten eines Flures, vor Blicken geschützt, lächelte er.

ZWEITER TEIL Das linke Ufer

I

DER ALLTAG IM ATELIER
    Das Atelier befand sich im ersten Stock. An der Straße wies nur ein nüchternes Schild auf sein Vorhandensein hin, doch Billod hatte den Wohlstand seines Handels auf dem Ruf begründet. Es gelang ihm, die Klasse der unteren Titel, der kleinen Privatiers anzuziehen, aber auch jene, deren Geschäft wundersam florierte, die ihr Glück gemacht und sich damit eine Seitentür zur Pariser Bourgeoisie geöffnet hatten. Diese Welt war auf Sparsamkeit aus, konnte sich keine Verschwendung leisten, auch wenn es die Illusion zu erwecken galt. Justin Billod hatte das verstanden. Die eine und vielleicht einzige Idee seiner Karriere, die seinem

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