»Die Essensfälscher«. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen
steigt, im Gepäck eine Digitalkamera und ein Temperatur-Messgerät, dazu Gummistiefel, Einmalhandschuhe, Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Diktiergerät, eine Thermo-Box mit Kühl-Akkus und Probengefäßen und natürlich mit jeder Menge Formulare, dann erfüllt er eine hoheitliche Aufgabe von höchstem Rang: Er soll nicht weniger leisten, als uns Verbraucher vor Gesundheitsgefahren und Täuschung zu schützen. So verlangt es das Lebensmittelgesetz. Doch all seine Ausrüstung und Amtsautorität können nicht verdecken, dass der Kontrolleur letztlich eine traurige Figur abgibt, dass er ein Sinnbild für Staatsversagen ist.
Denn seine Kontrollen in Gaststätten, Supermärkten, Metzgereien, Industriebetrieben oder Imbissbuden schützen uns nur sehr bedingt. Das zeigen die – wen wundert’s – anonymen Statistiken der Landesämter für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, die Jahr für Jahr eine skandalös hohe Zahl von Verstößen gegen das Lebensmittelrecht ausweisen. So pendelt beispielsweise die betriebliche »Beanstandungsquote«, also das Verhältnis zwischen der Zahl der kontrollierten und der beanstandeten Betriebe, seit vielen Jahren zwischen 20 und 24 Prozent; das heißt, dass fast jedes vierte kontrollierte Unternehmen nicht dem genügt, was das Gesetz zu unserem Schutz einfordert.
Dasselbe gilt für die Beanstandungsquote bei den Proben, die von den Kontrolleuren eingesammelt und im Labor untersucht werden: Konstant 14 bis 15 Prozent verstoßen gegen die Vorschriften. Dabei sind in besonders wichtigen Lebensmittelbereichen wie Käse, Wurstwaren und Fleischerzeugnisse Beanstandungsquoten von 20, 30, 40 und noch mehr Prozent keine Ausreißer, sondern Größenordnungen, über die sich kein Lebensmittelkontrolleur mehr wundert. Und das ebenfalls seit vielen Jahren.
Unser anonymer Lebensmittelkontrolleur und gelernter Metzgermeister könnte also allen Grund für tiefen Berufsfrust haben über seine Rolle als Mann im Hamsterrad. »Irgendwo laufen wir den Tatsachen schon hinterher«, ist jedoch schon das Äußerste, was er an Kritischem vorbringt. Aber vielleicht ist Systemkritik auch zu viel erwartet von einem, der als Beamter der »unteren Lebensmittelüberwachungsbehörde« selbst zum System gehört und dazu noch dessen letztes und schwächstes Glied ist.
Tatsächlich verantwortlich sind die Bundesländer, die in Deutschland die Lebensmittelüberwachung organisieren, und vor allem die Gesetzgeber in Berlin und Brüssel. Unter ihren Augen täuschen und betrügen Unternehmen systematisch ihre Kunden, ohne dass dagegen wirkungsvoll vorgegangen wird. Statt auf dem Dirigentenpult zu stehen und unfähige, taktlose und kriminelle Orchestermitglieder zum Üben nach Hause zu schicken oder aus dem Orchester zu schmeißen, weicht die Politik der geballten Lobbymacht der Industrie aus und zieht sich freiwillig auf die Position der zweiten Geige zurück. Von dort schaut sie relativ teilnahmslos zu, beschwichtigt durch gelegentliche Fensterreden, ignoriert, toleriert oder stellt das Publikum mit politischen Placebos ruhig. Die Politik imitiert nur politisches Handeln. Sie verrät uns Verbraucher an einen strukturell fehlgesteuerten Lebensmittelmarkt.
Es gibt kaum einen besseren Ort, dieses Politikversagen zu besichtigen, als Bayern, das Land der Fleischliebhaber und Weißwurstesser im weißblauen Süden der Republik. Dokumentiert wird das Politikversagen ausgerechnet auf den Internet-Seiten des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Dort findet man ein Schaubild, über dem die Überschrift »Moralischer Niedergang einer Branche« stehen könnte; aber es steht ganz profan »Fleischanteil in ausländischen Kochpökelwaren« darüber; Kochpökelwaren sind jene Lebensmittel, die der Verbraucher gemeinhin als Vorder- oder Hinterschinken oder als Formfleisch kennt. Die rote Kurve beginnt links oben im Jahr 1993 bei einem Fleischanteil von 83 Prozent – also bereits ein gutes Stück unterhalb jener 90 bis 95 Prozent, die in Deutschland nötig sind, damit ein Hersteller sein Lebensmittel rechtmäßig »Schinken« oder zumindest noch Formfleisch nennen darf; von diesen 83 Prozent Fleischanteil sinkt die Kurve stetig auf einen Wert von 57 Prozent im Jahre 2008; trauriger Spitzenreiter war 2007 ein »Erzeugnis« mit einem Fleischanteil von nur noch 38 Prozent. Geht die Entwicklung so weiter, wird es nicht mehr lange dauern, bis fleischloser Schinken in den Supermarkt-Regalen
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