Die Eule - Niederrhein-Krimi
junger Mann, der sonst nur Frauen, Erotik und sein Konditorhandwerk im Kopf hat, über so eine Datei verfügt.«
»Vielleicht muss er seine eigene Familiengeschichte bewältigen?«
»Haben wir auch gedacht, nur, die Einwohnermelderegister zeigen an, dass keine seiner Linien dorthin führt, alles gebürtige Ruhrgebietler und Niederrheiner.«
»Du willst sagen, der Tote stammt von hier. Die Akten dokumentieren eine Bespitzeling …«
»Niedlich in deinem Dialekt, aber es heißt Bespitzelung.«
»… die Bespitzelung einer Person zu damaligen Zeiten …«
»… in den frühen Sechzigern, genauer gesagt …«
»… und ihr habt gleichzeitig herausgefunden, dass die Wurzeln der Anführerin von dem Verein, in dem auch der Tote Mitglied war …«
»… ebenfalls aus dem Osten stammt.«
Sie schwiegen, als Maarten am Abzweig zur Rheinfähre den Blinker rechts setzte.
»Mann, dat is en dickes Ding.«
»Kannst du laut sagen. Ich bin echt gespannt, wie es weitergeht.«
Er legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. »Ich auch.«
»Meinst du jetzt den Fall?«
Die Hand bewegte sich langsam nach oben. »Nein. Ich spreche von deiner aufregenden erotischen Affäre mit dem attraktiven Taxifahrer.«
Maarten bog vor dem Restaurant Zur Rheinfähre links ab zur Natostraße und parkte seinen Wagen mit Blick auf den Fluss. Vom gegenüberliegenden Bislicher Ufer spiegelten sich Scheinwerfer in der sanften Strömung, die nur selten von Schiffskörpern durchpflügt wurde. Rote, grüne, weiße Positionslichter verschwanden unter dem Tuckern der schweren Motoren in der Ferne. Irgendwo im Weidenhain oberhalb des Ufers rief eine Eule.
Das freudige Kichern zweier Menschen ging über in genießerische Stille, nur durchbrochen von einzelnen, lustvollen Seufzern.
FÜNF
23. Mai 1960, 21.17 Uhr
Die Nacht vor der Hinrichtung ist eine unvorstellbare Situation. Gedanken drehen sich im Kreise, endlos und immer wieder, und wenn es dazu reicht, lässt einer vielleicht sein ganzes Leben Revue passieren. Denken – wozu denken, wenn sich das Leben fremdbestimmt dem Ende zuneigt, weder Hoffnung bleibt, noch die Möglichkeit, mit einem einzigen großen Befreiungsschlag dem Schicksal zu entrinnen. Er grämte sich nicht, er fühlte keinen Schmerz, er spürte nur Leere und eine große Enttäuschung, dass ihn irgendeine göttliche Macht, wenn es sie da draußen gab, nicht gerettet hatte. Bilder bewegten sich an die Oberfläche seines Bewusstseins wie Luftblasen aus der Tiefe des Meeres. Seine Familie, seine Frau, von der er längst getrennt lebte, und die Kinder, von denen ihn das Mädchen, längst eine erwachsene junge Frau, in seinem selbst gewählten Fluchtort fern der DDR in Nordrhein-Westfalen erst aufgespürt, dann besucht hatte. Er war überrascht gewesen, nein, er hatte sich von so viel Nähe erwärmt gefühlt und bei sich väterliche Fürsorge bemerkt, deren er sich nicht mehr fähig glaubte.
Die Bilder verschwanden im Strudel der Gedanken so zusammenhangslos, wie sie emporgeschwebt waren. Der Mann warf die Arme, die er um den Kopf geschlungen hatte, im Bogen zur Seite und schnellte aus dem Kauersitz hoch. Er begann zu schreien und holte Töne tief aus der Kehle heraus wie ein waidwundes Tier. Dabei hatte er das Gefühl, sich zu befreien, obwohl er wusste, dass nicht einmal das kleinste Geräusch aus dem abgedunkelten Raum drang. Die Schallwellen wurden geschluckt von der Wandverkleidung, die wie eine riesige gewellte Eierverpackung aussah und die unterbrochen war von kleinen, vorragenden Schallbrechern.
Vom Bezirksgericht hatten sie ihn direkt in den zweiten Stock des Stasigefängnisses in Dresden gebracht und sicherheitshalber in die Einzelhaftzelle gesperrt, die nicht nur fensterlos, sondern rundherum von innen präpariert war. Hier konnte man die Renitenten wie ihn unterbringen. Hier konnte scharf verhört werden, ohne dass Schläge und Schreie nach draußen drangen; hier konnte jemand, der seine Todesängste herausbrüllen wollte, vor den Mitgefangenen geräuschlos versteckt werden.
Der Mann trommelte gegen die gepolsterte Tür, gegen die Wand, er verfiel der Raserei, schlug um sich, kreischte, das zumindest konnte ihm jetzt keiner nehmen. Er hörte nicht, wie das Verdeck des Gucklochs vom Gefängnisgang her zur Seite bewegt und der kantige, schwere Türriegel mit einem harten Ruck zurückgeschoben wurde. Ein Major, mit dem der Verurteilte viele Einsätze gemeinsam absolviert hatte und zu dem bei seinem letzten Stasijahrestreffen mit
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