Die Eule - Niederrhein-Krimi
Tschekisten nicht mehr erholt. Die alte Kampfmoral des MfS war nicht mehr zu retten. Damals war ich erst knapp zehn Jahre alt, aber die Geschichten der Wendezeit klingen mir noch heute in den Ohren.«
»Ja, und kurz zuvor war das Ministerium für Staatssicherheit in ›Amt für Nationale Sicherheit‹ umbenannt worden. Amt und nicht mehr Ministerium, Sicherheit und nicht mehr Staatssicherheit – es war vorbei mit der alten Macht«, beeilte sich Beißer, das Thema wieder an sich zu reißen.
Gero von Aha war einerseits fasziniert von den mit einer Prise Abenteurertum nacherzählten Geschichten derjenigen, die einen Umsturz erlebt hatten, und von dem Gedanken, dass ein Zipfel der Weltgeschichte über zwanzig Jahre später bis in die kleinkriminalistische Aufklärungsarbeit in der niederrheinischen Provinz hinüberreichte. Andererseits füllte sich jetzt schlicht das Restaurant, und es war höchste Zeit, an den Austausch von Fakten ohne gefährliche Mithörer zu erinnern.
Beißer öffnete seine Aktentasche, holte einen USB -Stick und ein paar abgeheftete, sichtbar mit Marker bearbeitete Seiten hervor. » Nomen est omen . Herr Beißer hat sich in die Aufgabe verbissen, die Gero von Aha erst vor ein paar Stunden stellte, und einige interessante Informationen gefunden.«
Er legte eine Kunstpause ein, bevor er fortfuhr.
»Es gab 1954 einen Fall von Republikflucht, ausgerechnet den eines Stasimannes. Der hatte in den Westen rübergemacht, nach Duisburg. Stricker hieß der Mann. Jetzt haltet euch fest: Der hat seine Familie einfach sitzen lassen. Die Tochter – sie hieß Lilli Stricker – war gerade mal neunzehn und wohl etwas labil, als die Firma Kontakt zu ihr aufnahm. Die Stasi hat sie unter Druck gesetzt, ihr berufliche Hilfe versprochen und sie dazu bewogen, ihren Vater zu kontaktieren. Dann ist sie rüber und hat ihn in die DDR zurückentführt. Alles minutiös von der Firma vorbereitet.«
Gero von Aha war beeindruckt. Seine These, dass der niederrheinische Mordfall, der erst wie ein tragischer Unfall aussah, tiefe Wurzeln in der DDR -Vergangenheit hatte und die späte Eruption eines lange schwelenden Konflikts war, bekam nicht nur Nahrung. Die von Beißer genannten Zusammenhänge zeigten, dass mit Sicherheit eine Geschichte hinter der Geschichte steckte und es keinen Anlass gab, ausschließlich im Westen zu ermitteln.
»Lebt die Frau heute noch? Und wenn ja, wo? Gab es weiterhin Verbindungen nach Duisburg?«
»Das kann man nicht sagen. Ich weiß aber, dass Lilli Stricker einen Führungsoffizier hatte. Der hatte den Auftrag von ganz oben, am Stasioffizier Stricker zu demonstrieren, wie der Sicherheitsdienst mit Abtrünnigen umgeht. Dazu sind noch Schriftstücke in den Archiven, die meisten sind sogar gut lesbar. Also der Führungsoffizier, der hieß Unterhagen, hat Lilli als Lockvogel eingesetzt, die die Rückholaktion ihres Vaters erst ermöglichte. Vielleicht konnte sie sich als naive Neunzehnjährige nicht vorstellen, was das hieß. Vielleicht war es persönliche Rache. Jedenfalls lieferte sie damit ihren Vater seinem Henker aus. Die Akten belegen das, übrigens in einem jubelnden Tonfall ob der gelungenen Aktion im feindlichen Gebiet.«
»Respekt, Herr Beißer, in der Kürze so viel ermittelt, phantastisch. Ich kann mich in diesen ungeheuerlichen Fall hineindenken, das alles muss tiefe Wunden geschlagen haben. Doch wo ist der rote Faden, der sich heute mit dem Niederrhein verknüpfen lässt? Da muss etwas sein!«
»Da ist auch etwas. Die Akten sind so alt, dass sie noch nicht alle aufgearbeitet und inventarisiert sind. Ich wusste nicht weiter, dann kam ich auf die Idee, in separat geführten Unterlagen für besondere Fälle nachzusehen, quasi einen Blick in den Giftschrank zu werfen. Man glaubt es kaum, hier gibt es Schriftstücke, in denen der Führungsoffizier seine IM Honett, das ist Lilli Stricker, in den höchsten Tönen lobt. Sie wurde noch mehrfach eingesetzt, bevor Unterhagen mitteilte, dass seine Frau Lilli Unterhagen wegen des Eheverhältnisses aus dem aktiven Spitzeldienst ausscheiden müsse. Erst liefert diese Frau ihren Vater dem Henker aus, dann heiratet sie den Mann, der ihn geradewegs aufs Schafott beförderte – das ist doch pervers.«
Christiane nickte fassungslos, Gero von Aha jubelte innerlich. So niederschmetternd diese Geschichte auch war, er hatte mehr zu hören bekommen, als er hoffen durfte.
Beißer meldete sich zurück. »Was Sie noch interessieren dürfte, ist Folgendes: Die
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