Die Eule von Askir
gehört, dass Ihr den vermissten Soldaten gefunden habt und das nur anhand eines Bildes. Vielleicht…« Er hielt ihr die Schachtel entgegen. Zögernd nahm Desina sie. Sie trug ihre Robe, und auch ohne die Worte des Baronets hätte sie ahnen können, was sich in der Schachtel befand, zu groß war das Echo des Schmerzes.
»Sie lebt«, sagte Desina leise.
»Das wisst Ihr, ohne die Schachtel zu öffnen?«
»Was zusammengehört, wird auch getrennt eine Bindung haben«, erklärte sie leise. »Eine Art Bestimmung, eine feste Fügung dessen, was sein sollte und nun falsch ist.« Sie sah zu dem Aldaner auf. »In gewisser Hinsicht ist der Finger noch immer ein Teil von ihr, und es gibt nur eine Stelle, an der er sein sollte, an der Hand dieser jungen Frau.«
Sorgsam löste sie den Deckel der Schachtel und sah auf den bleichen und blutigen Finger hinab. Als sie ihn berührte, spürte sie, wie sich etwas in ihr regte. Etwas Altes, Mächtiges, etwas, das ganz tief in ihr wohnte. Ein schwaches rötliches Leuchten entstand um den Finger herum, ein langsames Pulsieren, wie von einem Herzschlag.
Es war nicht das Wissen der Eulen, das sie trieb, es war ein tieferer Instinkt, ein Gefühl, etwas, das den Eulen des Alten Reichs schon immer suspekt gewesen war. Etwas, das sich nicht so leicht mit den Wissenschaften erklären ließ.
Blutmagie. Die Art von Magie, die, wenn Balthasar in seiner Vermutung Recht behalten sollte, die Grundlage der Nekromantie darstellte. Unheilig. Unrein. Aber machtvoll und verführerisch. Doch was, wenn es einem guten Zweck diente?
Einen Moment noch zögerte sie, dann griff sie nach dem hauchfeinen, blutigen Faden, der Finger und Körper noch immer verband.
»Es hat keinen Sinn, sich zu sträuben, mein Kind«, sagte die Frau in dem eleganten Kleid, als sie sich über Melande beugte. »Es ist dein Schicksal.«
»Mein Schicksal liegt nicht in Eurer Hand!«, fauchte die Tochter des Botschafters mit trotzigem Blick. »Ich werde dafür sorgen, dass man Euren schönen Körper in tausend Teile zerlegt und diese wilden Hunden zum Fraß vorwirft.«
»Danke für das Kompliment, mein Kind.« Die Frau mit der alabasterweißen Haut und den pechschwarzen Haaren lächelte. »Aber so weit wird es nicht kommen. Wir denken gleich, du und ich.« Sie beugte sich über die junge Frau, die mit festen Lederriemen an ein schweres Bettgestell gefesselt war. »Seht, einen Anfang haben wir bereits gemacht.« Sie strich zuerst sanft über den Stumpf des Fingers, bevor sie dann hart zudrückte. »Ihr dürft ruhig schreien«, fügte sie mit einem heiteren Lächeln hinzu.
Melande stöhnte auf, ein Zittern lief durch ihren Körper, und Schweißperlen entstanden auf der jugendlichen Stirn, doch ihre Augen hielten dem Blick der Verfluchten stand.
»Ich bin die Tochter eines aldanischen Ritters«, brachte Melande gepresst hervor. »Tut, was Ihr tun müsst, ich werde Euch nicht den Gefallen tun, zu brechen.«
»O doch, das wirst du, mein Kind«, sagte die Frau. »Das wirst du. Aber ich tue dir nichts. Das werden andere übernehmen, vielleicht sogar welche, die du kennst, schließlich verkehrst du in den besten Kreisen. Du denkst, du weißt schon alles über die Menschen, mit denen du dein Leben teilst, aber in Wahrheit sind sie schwach und verdorben und haben sich schon längst verführen lassen.« Sie strich noch einmal über den Fingerstumpf. »Ich werde dich Stück für Stück verkaufen, Gelenk für Gelenk, an Leute, die eine hohe Summe zahlen, um ihren Gelüsten ungestraft nachkommen zu können. Je stolzer die Frau, desto mehr werden sie es genießen.«
Die Augen der jungen Aldanerin weiteten sich, als sie verstand, was die andere ihr sagen wollte. »Ihr seid wahrlich verflucht«, hauchte sie leise. »Ihr habt recht, Ihr werdet mich brechen. Mir graust davor, und mir ist ganz elend bei dem Gedanken, was Ihr mir antun werdet. Und doch will ich mein Schicksal nicht mit dem Euren tauschen, Sera, denn Ihr seid wahrlich verflucht. Ihr seid ein Ungeheuer in liebreizender Form, aber schlimmer als alles, was die Schöpfung der Götter entstehen ließ.«
»Ich mag deine Komplimente, mein Kind.« Die blutroten Lippen der Frau formten sich zu einem kalten Lächeln. »Aber in einem irrst du. Die Götter schufen uns, wie wir sind, dich und mich. Einst dachte ich wie du und wäre mit den gleichen Worten auf den Lippen gestorben.« Die wunderschöne Frau richtete sich auf und strich ihr Kleid glatt. »Aber du wirst nicht sterben,
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