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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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hebräisches Evangelium wirklich gab – was noch zu beweisen war! –, warum berief sich die Kirche dann von Anfang an auf den griechischen Text, der, wie Elija behauptete, in fast jedem Satz vom hebräischen Wortlaut abwich? Wo war dieses Evangelium eintausendvierhundert Jahre lang gewesen, bis Rabbi Shemtov es in sein Buch übernahm? Hatten die jüdischen Gemeinden es all die Jahrhunderte bewahrt?
    Warum hatten die Juden den alten Text gerettet und nicht einfach in der Genisa* einer Synagoge begraben – wie es mit Schriften üblich ist, die den Gottesnamen enthalten? Weil der Text jüdischer war … weil er wahrer war als die griechischen Texte?
    Elija sah, wie ich mit mir rang. »Besitzt du die Kirchengeschichte von Eusebius? Ich könnte dir zeigen, was die Kirchenväter geschrieben haben.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Elija wirkte enttäuscht: Wie gern hätte er mir meine Zweifel genommen! Und wie gern hätte ich ihm geglaubt! Sollte ich … durfte ich ihn an jenen geheimen Ort mitnehmen? Es war gefährlich!
    Ich wandte mich um und warf einen Blick aus dem Fenster.
    Wo war der Mann in der Gondel, der mich beobachtet hatte?
    Vor der Ca’ Contarini war kein Boot mehr festgemacht. Träge schwappten die Wellen des Canalazzo gegen die algengrünen Stufen zum Portal des Palazzos.
    Von den Ereignissen der letzten Tage war ich noch so aufgewühlt, dass ich mir eingebildet hatte, ich würde überwacht!
    Doch dann erschrak ich: Der Mann stand an der Anlegestelle der Mietgondeln an der Kirche Santa Maria della Carità, wenige Schritte von der Ca’ Contarini entfernt, und sah zu mir empor. Als er meinem Blick begegnete, drehte er sich um und verschwand.
    Wer war der Mann? Wer hatte ihm befohlen, mich zu beobachten – Giovanni Montefiore oder die venezianische Staatsinquisition?
    Ich fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht, als könnte ich so die Furcht verscheuchen.
    Wenn das Hauptportal zum Canalazzo beobachtet wurde, obwohl ich nur selten mit der Gondel fuhr, dann wurde auch der Eingang des Palazzos am Campo San Stefano überwacht. Und Elija war gesehen worden, wie er mein Haus betrat: ein jüdischer Rabbi, der eine Christin besuchte!
    Dann traf ich eine Entscheidung – und ich machte sie mir nicht leicht! »Ich besitze dieses Buch nicht. Aber ich weiß, wo ich es finden kann.«
    »Wo?«
    »In meinem ›Königreich der Himmel‹.«

    Und dann nahm ich seine Hand und führte ihn in mein Schlafzimmer.
    Ich kniete mich vor meine Kleidertruhe und zog ein paar enge Hosen hervor, ein Seidenhemd, eine elegante schwarze Jacke.
    Er sah zu, wie ich die Kleider auf das Bett warf und mich erneut über die Truhe beugte. Da war die dunkelblaue Jacke mit der eleganten Perlenstickerei! Mit einer Hose und einem weißen Hemd flog sie auf das Bett.
    Elija stand in der Nähe der Tür, und ich ging zu ihm hinüber.
    »Darf ich dir die Kippa abnehmen?«, fragte ich.
    Er sah mir in die Augen, dann nickte er.
    Ich nahm ihm die Kappe ab und berührte dabei sein langes Haar.
    Er war mir so nah!
    Dann öffnete ich die Silberknöpfe seines Gelehrtentalars mit dem aufgestickten gelben Kreis, den er als Jude in Venedig tragen musste. Ich zog ihm die weite Robe über die Schultern und half ihm aus den Ärmeln, während Elija mich nicht aus den Augen ließ. Er schien es zu genießen, dass ich ihn auszog.
    »Darf ich das Paradies nur nackt betreten?«, fragte er mit funkelnden Augen und einem ironischen Lächeln, während ich mit zitternden Fingern sein weißes Seidenhemd aus der engen Hose zerrte und ihm über den Kopf zog. Darunter trug er auf der nackten Haut den Tallit Katan, den gestreiften Gebetsmantel.
    Ich zog ihm den seidenen Tallit aus: »Nein, Elija, du musst nicht nackt sein wie Adam und Eva«, erklärte ich ernst. »Aber du musst ein Mensch sein, der frei ist und der Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann.
    Juden und Frauen sind nicht frei. Also tun wir eine Nacht lang so, als wären wir Menschen, und schleichen uns ins Paradies, um ein bisschen von den verbotenen Früchten zu naschen.« Ich lächelte verschmitzt. Dann führte ich ihn zum Bett und wies auf die indigoblaue Jacke mit der Perlenstickerei. »Würdest du das bitte anziehen?«
    »Wem gehören diese Kleider?«
    »Wenn ich nachts in Venedig unterwegs bin, trage ich diese Hemden und Hosen. Die blaue Jacke mit der Perlenstickerei hat meinem Vater Giacomo Tron gehört, dem berühmten Humanisten und Consigliere dei Savi. Ich denke, sie wird dir passen. Du bist so

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