Die ewige Bibliothek
hingerissen, und schließlich bekamen wir sogar einen davon zu essen. Noch immer von unserer Entdeckung begeistert, kehrten wir in die Hauptkammer zurück, und stellten fest, dass A wieder da war – diesmal in Begleitung von einem Dutzend Ankoriten.«
»Heilige Eremiten«, sagte Michael zu Galen.
»Sie saßen um das Feuer herum und diskutierten auf Tibetanisch. Wir nahmen an, dass A die Anführerin sei, da man sich ihr im allgemeinen unterordnete. Aber einige der anderen waren so alt, dass sie es durchaus mit ihr aufnehmen konnten. Interessanterweise schienen nur vier von ihnen Tibetaner zu sein: drei Männer, deren Alter zwischen Fünfzig und wer weiß wie alt lag, und eine Frau um die Siebzig oder Achtzig. Dann waren da zwei Inder, ein Mann mittleren Alters und eine Frau um die Dreißig, außerdem ein großer, vielleicht fünfzigjähriger Skandinavier. Außerdem gab es drei dunkelhäutige Männer, vielleicht Ägypter, von unbestimmbarem Alter. Der elfte Mann war eindeutig Orientale, ziemlich fettleibig, und besaß ein sympathischeres Gesicht, als alle anderen in der Höhle. Die letzte, eine ältere, rothaarige, europäische Frau, war gerade in eine hitzige Diskussion mit A verwickelt, in der es, den häufigen Gesten in unsere Richtung nach, um uns ging. Plötzlich trat H vor, umrundete sie von rechts und warf sich vor ihnen der Länge nach auf den Boden. Das brachte sie zum Verstummen. A strahlte, als sei ihre Meinung gerade bestätigt worden, und die Rothaarige blickten erst zu ihr und dann auf H hinunter, der sich nicht gerührt hatte. Schließlich standen sie ohne ein Wort gemeinsam auf und verließen die Kammer durch einen Ausgang am hinteren Ende. A stieß H mit dem Stock an; er stand auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern. Dann winkte sie Harn und mich zum Feuer herüber und gab uns zu verstehen, dass wir uns setzen sollten. Ihr Gesicht faltete sich wie ein knittriges Pergament, als sie uns anlächelte. ›Willkommen in Meru‹, sagte sie. ›Ich bin Alexandra David-Neel, und ich habe schon sehr lange und geduldig auf Sie gewartet.‹«
KAPITEL SECHS
Die Bibliothek des Himmels
Galen beugte sich vor und rutschte Stirn runzelnd an die Kante seines Stuhls. »Alexandra David-Neel… Der Name kommt mir sehr bekannt vor, aber ich weiß nicht recht, wo ich ihn einordnen soll.«
»Sie kennen sie vielleicht als Alexandra David«, sagte Juda. »Zur Zeit der Belle Epoque war sie in Frankreich Opernsängerin.«
»Natürlich!«, rief Galen und schnippte mit den Fingern. »Jules Massenets ›Manon‹. Damals war sie ein Star, wenn auch nur für kurze Zeit.«
»Sagen Sie«, meinte Michael, »war Alexandra David-Neel nicht die Journalistin, die als erste europäische Frau das heilige Kloster in Lhasa betreten hat? Waren die beiden möglicherweise miteinander verwandt?«
»Es handelt sich um ein und dieselbe Person – die Frau, die vor uns in der Höhle saß.«
»Dann ist sie nicht, ähm, tot?«, fragte Michael skeptisch.
»Sind Sie tot?«, fragte Juda.
»Warum fragen Sie das, wo Sie doch offensichtlich hier sitzen und mit mir… Ah, ich verstehe. Fahren Sie fort.«
Juda lächelte. »Das muss Ihnen nicht peinlich sein – eine Menge Leute werden aus dem einen oder anderen Grund fälschlicherweise für tot erklärt. Bei ihr lag es daran, dass sie nach Tibet zurückkehren wollte. Alexandra oder ›A‹, wie sie von uns genannt werden wollte, hatte es im frühen zwanzigsten Jahrhundert durch ihre umfangreichen Schriften über die Region Tibet zu Ruhm und Ehren gebracht. Sie verließ das Land erst, als es durch das Eindringen der Japaner während des Zweiten Weltkriegs zu gefährlich wurde. Außerdem war sie damals eine etwa siebzigjährige Frau und die Anstrengungen einer so mühsamen Reise haben sie sehr stark mitgenommen.«
»Siebzigjährig«, sagte Galen und rechnete im Kopf nach. »Sie würde jetzt also auf die Einhundertundfünfzig zugehen – und das soll die Frau sein, von der Sie behaupten, dass sie im Himalaja herumgewandert ist?«
»Sie ist nicht herumgewandert«, sagte Juda. »Sie ist eine kora gelaufen, eine religiöse Umrundung des Berges über uns, der mehreren Religionen als heiliger Ort gilt – Mount Kailas. Für die Hindus ist er der Thron Shivas und einer der Seen zu seinen Füßen eine heilige Quelle, die aus dem Geist Brahmas geschaffen wurde. Für die Buddhisten, Bonpo und Jaina ist er die Seele der gesamten Region. Die Gläubigen suchen ihn seit Jahrhunderten auf der Suche
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