Die ewige Bibliothek
»Diesen Unterschied hatten die Meru erkannt und gaben ihn wiederum an uns weiter. H und ich haben fast ein ganzes Jahr gebraucht, um etwas zu verstehen, das Sie in einer einzigen Nacht begriffen haben, Professor«, sagte er ernst. »Ich hatte gehofft, dass Sie das Ganze mit offenem Verstand aufnehmen würden, aber ich muss sagen, Ihre Genialität ist beeindruckend.«
»Überstürzen Sie Ihr Urteil nicht«, sagte Galen. »Verstehen bedeutet nicht unbedingt Glauben.«
Michael räusperte sich, während er sich das Gesagte durch den Kopf gehen ließ. »Sie haben erwähnt, dass die Meru in der Praxis eine lineare Wirklichkeit abgelehnt hätten«, sagte er, das Kinn in die Hand gestützt. »Wie genau macht man das?«
»Wie ich schon sagte: Die Meru haben Zen nicht so praktiziert, wie wir es kennen, sondern einen Brauch, der älter ist als die Zeit und vor Jahrhunderten aus dem eigentlichen Zen hervorgegangen ist. Ich nehme an, man könnte A die ›Anführerin‹ oder ›Meisterin‹ der Gruppe nennen – obwohl ›Leiterin‹ oder ›Lehrerin‹ es vielleicht eher getroffen hätte. Die Meru-Ankoriten bestanden aus einem Lehrer und zwölf Jüngern. Und als jüngster und letzter Neuankömmling wurde A automatisch zur Lehrerin, als sie sich der Gruppe anschloss.«
»Die Jüngste wird zur Lehrerin?«, fragte Galen erstaunt. »Wie das?«
»Die anderen wissen bereits, was sie wissen«, antwortete Juda. »Die einzige Möglichkeit dazu zu lernen, besteht darin, von jemandem unterrichtet zu werden, der andere Erfahrungen gemacht hat als sie – A war eine solche Person, und die letzte, die seit Jahrzehnten aufgetaucht war.«
»Aber Sie sagten, es gab noch andere, die viel jünger waren als A.«
»Von der äußeren Erscheinung her, ja. Aber wenn Sie sonst nichts aus Obskuros Show heute Nacht gelernt haben, dann doch zumindest, dass äußere Erscheinungen manipuliert werden können.«
»Alles klar«, sagte Michael. »Sie sagten, dass H und Sie von ihnen unterrichtet wurden – was ist mit Ihrem Piloten passiert?«
»Am ersten Tag erfuhren wir As Geschichte, und wie sie nach Meru gekommen war – so nannten sie das labyrinthähnliche Höhlensystem unter dem Berg. Am zweiten Tag wurden wir von O, dem riesigen Orientalen, und den Indern M und K geweckt, mit denen wir den Rest des Tages verbrachten. Am dritten Tag lernten wir S, den Schweden, kennen, die Tibetaner G, R, T und Melvin…«
»Melvin? Muss ich noch fragen?«, sagte Michael.
»Auch ein blindes Huhn… sie wissen schon«, sagte Juda. »In jener Nacht kamen die Ägypter – U, U und U.«
»Sie hießen alle ›U‹?«
»Ja, was für ziemliche Verwirrung sorgte. Immer wenn jemand ›U‹ rief, drehten sich alle drei um. Wir haben die rothaarige Frau erst während unserer letzten Tage in Meru wieder gesehen, aber nach dem vierten Tag spielte das kaum noch eine Rolle. An jenem Morgen kamen die Zwölf geschlossen zu uns und verkündeten, dass wir unsere Bereitschaft gezeigt hätten, unterrichtet zu werden, und ihnen deshalb bei ihrer Arbeit im Zentrum Merus zusehen dürften. Sie zündeten mehrere Lampen an und führten uns tiefer in das Stollensystem hinein, als wir auf unseren bisherigen Wanderungen vorgedrungen waren. Ich kann nicht sagen, in welcher Tiefe wir uns bewegten. Je weiter wir jedoch kamen, desto dichter schien die Luft zu werden – sie schien geradezu das Gewicht des Berges über uns zu tragen. Schließlich stießen wir auf ein Paar massiver Holztüren, die in eisernen Angeln hingen. Damit verbunden war ein aufwändiger Mechanismus, mit dessen Hilfe man die Türen öffnen konnte. Offensichtlich handelte es sich dabei jedoch um die Ergänzung einer Konstruktion, die von größeren Menschen als uns gebaut worden war. H, R, T und O betätigten den Mechanismus und die Türen schwangen langsam auf.«
»Was lag dahinter?«, fragte Galen und beugte sich vor. »Die Bibliothek?«
»O ja«, sagte Juda. »Da war sie. Hinter den Türen befand sich eine etwa zwölf Meter lange zylindrische Kammer. An ihren Wänden reihten sich Regale, und die Regale waren mit Büchern voll gestopft. Der Anblick zog H so sehr in seinen Bann, dass er mit starrem Blick darauf zuging und zwei der Us ihn erst im letzten Moment von dem Abgrund zurückreißen konnten.«
»Abgrund?«, fragte Galen.
»Hinter den Türen befand sich nur ein schmaler Vorsprung«, erklärte Juda, »sonst waren die Wände ringsum mit Regalen voll gestellt und es gab kein sichtbares Leiter- oder Gerüstsystem.
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