Die ewige Bibliothek
nach spiritueller Erleuchtung und Absolution auf. Für die meisten Abendländer ist er mit etwas über sechstausendsiebenhundert Metern Höhe der dritthöchste Berg in Tibet. Und für einige hundert Generationen von Gläubigen war er die Verkörperung des Mount Meru, des größten Berges im Zentrum des Universums.«
Michael nickte, als sich für ihn einige Puzzleteile der Geschichte zusammenfügten. »Meru – ›der Weltberg‹, oder ›der Erste der Berge‹. Er ist ein bedeutender Bestandteil der religiösen Kosmographie Asiens. Ich hätte schon früher darauf kommen können.«
»Nicht nur Asiens«, sagte Juda, »sondern auch der Sumerer.«
»Dann wären wir also wieder bei den Sumerern. Ist das von Bedeutung?«, fragte Michael.
»Das wird es werden«, erwiderte Juda. »Bald wurde deutlich, dass A hauptsächlich an einem Gespräch mit H interessiert war – Harn und ich waren, glaube ich, nichts weiter als ein notwendiges Übel.«
»Was war an ihm so Besonderes, außer der Vorliebe für einsilbige Namen?«, fragte Galen.
»Nun, zunächst einmal hätten wir sie gar nicht sehen dürfen – einige Tausend Pilger laufen jedes Jahr kora um den Berg, aber nur wenige bekommen einen der Meru-Ankoriten zu Gesicht, und niemand sieht jemals A. Das ist eines der Privilegien eines Zen-Illusionisten.«
»Und warum…?«
»Warum wir sie sehen konnten? Weil das Muster, das H und Ham bei ihrer Wanderung um die Pyramide gelaufen waren, ein Mandala bildete – ein Offenbarungsmuster. Und A war das, was offenbart wurde. Als sie feststellte, dass wir sie sehen konnten, musste sie als Nächstes herausfinden, ob das Zufall war oder Schicksal. Darum ging es bei der Sache mit dem Felsblock. Es handelte sich um ein shapje – einen Fußabdruck, den Buddha höchstselbst hinterlassen hatte.«
»Und dass Hs Fuß in den Abdruck passte«, begann Michael, »war das entscheidende Argument.«
»Genau. A zufolge waren das die beiden zu jenem Zeitpunkt notwendigen Qualifikationen, um in den Kreis der Ankoriten aufgenommen zu werden.«
»Wie viele Qualifikationen gibt es?«, fragte Galen.
Juda zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass es eine Beschränkung gibt.«
»Das scheint mir aber nicht gerade fair«, sagte Michael.
»So ist Zen nun einmal«, sagte Galen.
»Die Meru hatten davon eine etwas andere Vorstellung«, sagte Juda. »Es gibt viele Dinge am Zen-Buddhismus, die ich gleichermaßen idiotisch und außerordentlich bemängelnswert finde. Trotzdem ist da auch einiges zu bewundern, vor allem an der Methodik des Zen, ein intuitives Verständnis abstrakter Sachverhalte anzuregen; eine Methodik, die die Meru aufs Äußerste verfeinert haben.«
»Wie das?«
»Durch die völlige Ablehnung linearer Vernunft nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Zen mag wie ein äußerst paradoxes System wirken – wer es versteht, braucht es nicht. Andererseits können diejenigen, die es brauchen, es niemals verstehen und brauchen es deshalb ebenso wenig. Die grundlegende Botschaft des Zen lautet nicht nur, dass da kein ›da‹ da ist, es gibt schlicht kein ›da‹, das da sein kann – und auch kein ›hier‹ – und kein ›Ding‹, das wahrnehmen oder wahrgenommen werden kann. Zen lehrt außerdem, dass das Wesen Buddhas oder das Potential, Erleuchtung zu erlangen, in jedem von uns steckt, sich aufgrund unserer Unwissenheit jedoch in schlafendem Zustand befindet. Man erweckt es nicht durch das Studium von Schriften, die Ausführung guter Taten, Riten und Zeremonien oder die Anbetung von Bildern, sondern durch einen plötzlichen Ausbruch aus den Grenzen des alltäglichen logischen Denkens. Die Übung in den Methoden, die zu solch einer Erleuchtung führen, wird am besten direkt von einem Meister an einen Schüler weitergegeben. Die empfohlenen Methoden unterscheiden sich jedoch von Sekte zu Sekte. Eine Sekte betont einen plötzlichen Schock und die Meditation paradoxer Aussagen, die koan genannt werden. Eine andere zieht die Methode der sitzenden Meditation vor. Es ist Zen-Buddhisten unmöglich, zu erkennen oder zu verstehen, dass ›da‹ und ›hier‹ und ›Dinge‹ vollkommen relativ sind, und dass alle ›Wirklichkeiten‹ – alle und nicht nur eine bestimmte – vollkommen relativ sind.«
»Relativ in Abhängigkeit von der eigenen Wahrnehmung«, sagte Galen, »und das einzige Kriterium dafür, ob diese Wahrnehmungen auf Berührung oder auf Deutung basieren.«
Juda sah den Musiker mit echter Hochachtung an.
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