Die ewige Bibliothek
»Haben Sie daran geglaubt?«
Galen warf Michael einen Seitenblick zu. »Ich… wollte daran glauben. Aber es ist wenig sinnvoll, sich jetzt darüber Gedanken zu machen, oder? Es ist verschwunden.«
Juda gluckste. »Ich dachte, ich hätte mich deutlicher ausgedrückt. Nichts ist jemals wirklich verloren – nur unsere Deutung der Wirklichkeit verändert sich.«
»Also, die Deutung, die mir im Moment am liebsten wäre, beinhaltet, dass das verdammte Buch hier vor mir liegt«, sagte Galen.
»Ich bin beeindruckt«, sagte Juda. »Das kommt der Sache sehr nahe. Genau genommen liegt es in der Küche.«
Galen blickte zu Michael hinüber, der sich bereits auf dem Weg zur Küche befand, wo Elena und er die übergroße Anrichte angebracht hatten, um die ramponierte Tapete zu verdecken. Doch bevor er sie erreichte, schwang die Tür auf und polterte gegen die Wand.
Verdammt, dachte Michael – Elena hat immer gesagt, ich müsste dort einen Türstopper anbringen.
Vor ihm im Türrahmen standen die bärtigen Zwillingsgestalten von Rutland und Burlington. Als erstes fiel Michael auf, dass die dunkelhäutigen Zwillinge ein identisches und ziemlich ungewöhnliches Grinsen zur Schau stellten. Als zweites bemerkte er, dass sie eine flache Kiste hielten, und in der Kiste…
… lag das Palimpsest.
»Sehen Sie?«, sagte Juda.
»Gott sei Dank«, sagte Galen.
»Donnerwetter«, sagte Michael.
Michael, Juda und Galen befanden sich im sterilen, nüchternen Büro des Vizerektors an der Universität. Der Raum war groß und hatte einen schönen Ausblick auf einen der Innenhöfe, war jedoch äußerst dürftig möbliert. Es gab mehrere Bücherregale voller säuberlich gestapelter Musikschwarten und Abhandlungen. In einer Ecke stand ein Klavier und auf dem eleganten, schwarzen Schreibtisch eine Büste von Wagner.
Juda wickelte vorsichtig das Paket aus, das sie aus seinem Haus im Wienerwald heimlich hierher gebracht hatten, und die drei Männer machten sich daran, den Schaden zu begutachten.
Mehrere Seiten fehlten ganz, einige sahen sogar aus, als habe jemand darauf herumgekaut – Michael hatte den Verdacht, dass alle kürzlich an der Universität aufgetretenen Fälle von Arsenvergiftung damit in Beziehung gebracht werden konnten, – aber im Großen und Ganzen war das Manuskript intakt und unbeschädigt.
»Ausgezeichnet«, sagte Galen. »Sie können sofort mit der Übersetzung beginnen.«
»Äh, das ist vielleicht nicht ganz so einfach. Ich muss zuerst noch ein paar… verfahrenstechnische Probleme lösen.«
Galen wusste, wovon Michael sprach. Die Mitteilungen an die Institute, deren Budget planmäßig gekürzt werden sollte, waren an diesem Morgen verschickt worden, und das Institut für Ältere Literatur und Geschichte stand ganz oben auf der Liste.
»Was brauchen Sie, Langbein? Was brauchen Sie, um dieses Manuskript zu übersetzen?«
Michael kaute an seinem Daumen, während er im Kopf einige Berechnungen durchführte. Schließlich blickte er auf das Schriftstück hinunter und dann zu Galen. »Vier Monate – möglicherweise sechs. Ich würde außerdem einen Arbeitsplatz brauchen – und angesichts des zerbrechlichen Zustands des Palimpsests brauche ich mit Sicherheit ein gutes Labor.«
Galen dachte nach. Das war weit länger, als er gehofft hatte, aber schließlich war Michael der Fachmann und nicht er. Wenn Michael es allerdings innerhalb von fünf Monaten schaffte, wäre das genau die richtige Zeit für eine Bekanntgabe der Entdeckung in Bayreuth – und das sollte Galen zumindest die Berufung in das Amt des Rektors sichern und gleichzeitig seinen Namen unwiderruflich mit den Wagnerfestspielen verknüpfen. Er musste Michaels Institut nur über das Sommersemester finanzieren. Das war ein kleiner Preis.
Galen stand auf und reichte Michael die Hand. »Professor Langbein, Sie bekommen Ihre Finanzierung – unter der Bedingung, dass Sie Ihre Arbeit innerhalb von fünf Monaten abschließen, und dass von jetzt an die Übersetzung der Edda das einzige Anliegen Ihres Instituts sein wird. Sind wir uns einig?«
Michael zögerte, nahm dann Galens Hand und schüttelte sie erst einmal, dann ein zweites Mal. »Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber haben Sie die Befugnis, all das zu genehmigen?«
»Noch nicht«, sagte Galen, »aber bald.«
Am Donnerstag Morgen gaben zweihundertachtzehn Studenten, Ladenbesitzer und sonstige Mitläufer bekannt, sie würden eine neue Rasse hyperentwickelter Menschen bilden,
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