Die ewige Straße
zurückkehrte, hatte Silas sich wieder über das Buch gebeugt. »Ich frage mich«, sagte er zaghaft, »ob Sie mir dieses Buch vielleicht für eine Weile anvertrauen?«
»Ja«, erwiderte sie. »Wenn die Bibliothek mir eine Kopie anfertigt?«
»Selbstverständlich. Das wird sich leicht einrichten lassen.« Sie konnte seine Erleichterung sehen. »Dürfte ich es vielleicht jetzt mitnehmen? Heute abend ?«
»Bitte sehr.« Er lächelte, klappte das Buch zu und wickelte es wieder in die Lederhülle.
»Nicht, daß ich Ihnen nicht vertrauen würde«, sagte sie. »Aber könnten Sie mir vielleicht eine Empfangsbestätigung unterschreiben?«
»Warum nicht.« Auf dem Tisch lagen mehrere Stapel Papier. Sie reichte ihm ein Tintenfaß und nahm einen Stift aus dem Regal. Er schrieb:
4. Januar 306
Imperium, Illyrien
Ich habe am heutigen Tag von Chaka Milana die einzige existierende Kopie von Mark Twains Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof in Empfang genommen. Das Buch wird Frau Milana auf ihr Verlangen umgehend zurückgegeben.
Unterschrift
(Silas Glote)
»Danke sehr«, sagte Chaka. »Aber ich hätte da noch eine Frage, Silas.«
Er nahm das Buch und hielt es in den Armen. »Ja?«
»Was glauben Sie, woher Master Endine es hatte?«
Kapitel 3
Die Entdeckung hätte Silas überglücklich machen müssen. In jener Nacht nahm er das Buch mit in seinen Schlafraum, blätterte es durch und las vereinzelte Passagen, bis das erste Morgengrauen am Himmel schimmerte. Aber er konnte eine düstere Ahnung nicht abschütteln. Kariks Stiefelspuren hatten deutlich erkennen lassen, daß er in den Fluß gegangen war. Karik Endine hatte seinem Leben willentlich ein Ende bereitet.
Und jetzt diese seltsame Geschichte mit dem Buch.
Warum nur hatte Karik ein derartiges Geheimnis da r aus gemacht?
Am nächsten Morgen übergab Silas das Buch mit einem Gefühl des Bedauerns an die Bibliothek. In einer Gesellschaft, die keine Druckerpresse kennt, ist eine Bibliothek zwangsläufig eine Einrichtung, deren erste Sorge der Sicherheit gilt. Den Benutzern ist der Zugang zu den Werken nur unter strenger Aufsicht gestattet, und niemand nimmt jemals ein Buch mit nach Hause.
Die Bibliothekare dankten Silas überschwenglich. Die Aufregung war groß, und es wurde viel geredet. Der Direktor kam eigens und versicherte Silas, daß man seine Dienste nicht vergessen werde. Als Silas schließlich ging, saßen immer noch alle über dem sensationellen Fund.
Er hatte an diesem Morgen frei, und er war viel zu aufgewühlt, um zu Bett zu gehen. Also besuchte er Flojian ein zweites Mal, diesmal beim Fährdock am Fluß. Flojian beaufsichtigte ein halbes Dutzend Arbeiter, die mit dem Bau einer Fähre beschäftigt waren. Er trug ein gelbes Baumwollhemd und graue Arbeitshosen. »Sie machen alles falsch, wenn man sie nicht wirklich jede Minute beaufsichtigt«, erzählte er Silas. »Als wir mit diesem Geschäft angefangen haben, konnte man sich noch darauf verlassen, daß die Leute für einen Taglohn einen Tag lang ehrliche Arbeit leisteten.« Er zwinkerte, schüttelte den Kopf und seufzte. »Was kann ich für Sie tun?«
Die Fähre wurde eine große, zweigeschossige Barke. Nach ihrer Fertigstellung würde sie mit Hilfe von Segeln und Stangen und zwei Reihen Ruderern zwischen Illyrien und Westlok auf der anderen Seite des Ufers verkehren.
Nach dem Entladen würde das Schiff genau wie die anderen Fähren von einer Zugmannschaft mit Pferden zu einem Dock flußaufwärts geschleppt werden, das gut zwei Meilen höher lag als der Punkt, an dem es seine Reise auf der illyrischen Seite begonnen hatte. Dort würde die Fähre neue Fracht aufnehmen, bevor sie die Rückreise über den Fluß antrat.
Silas bekundete gebührende Bewunderung für das neue Schiff und wechselte dann rasch zu dem Thema, das ihn zur Zeit beschäftigte. »Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, Flojian«, begann er, »warum dein Vater niemandem von seinem Mark Twain erzählt hat.«
»Laß uns reingehen«, sagte Flojian. Er führte Silas in ein kleines, unordentliches Büro, in dem sich überall Geschäftsbücher stapelten, und bot ihm einen Platz an. »Als Karik mir das Buch zeigte, flehte ich ihn fast an, es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es hätte sehr viel zur Wiederherstellung seines Rufs beitragen können.«
»Was hat er geantwortet?«
»Er sagte nein. Und dann sagte er noch, daß er mir das Buch nur aus einem einzigen Grund gezeigt hätte: damit
Weitere Kostenlose Bücher