Die ewige Straße
Sorge. »Ich empfehle Ihnen, das nicht zu tun. Dieses Buch ist unbezahlbar.«
»Aber was kann ich sonst damit anfangen? Hier bei mir ist es nicht sicher. Ich habe keine Diener. Ich müßte einen Wächter einstellen.«
Silas dachte nach. Sie würde wissen, daß er es vorzog, wenn sie das Buch dem Imperium verkaufte. Unter keinen Umständen wollte er, daß es an den Meistbietenden versteigert wurde. Die Gelehrten konnten nicht mit reichen Sammlern mithalten. Das Buch würde unwiderruflich im Salon eines Reichen verschwinden und wäre für niemanden mehr zugänglich. »Leihen Sie es an die Senatsbibliothek aus«, schlug er vor. »Man wird es wegschließen und bewachen, und es wäre den Gelehrten zugänglich. Außerdem könnten wir Schreiber mit der Aufgabe betrauen, Kopien anzufertigen.«
»Was bekäme ich dafür?«
»Sie würden den Erlös für die verkauften Kopien erhalten. Es wären keine Reichtümer, aber sicherlich auch nicht wenig. Darüber hinaus würde ich dafür sorgen, daß man sich erkenntlich zeigt.« Er lächelte. »Wir würden Sie regelmäßig zu Feiern und Banketts einladen, und die klügsten Köpfe der Republik wären Ihnen zu Dank verpflichtet. Außerdem müßten Sie sich keine Gedanken über Diebe machen. Und wenn Sie das Buch später verkaufen möchten, stünde es Ihnen frei.«
Lange Zeit sagte keiner der beiden ein Wort. »Silas«, fragte sie schließlich, »warum hat Master Endine das Buch ausgerechnet mir vermacht?«
»Ich dachte, Sie könnten mir diese Frage beantworten, Chaka.«
»Ich kannte ihn kaum.«
Silas bemühte sich, den Blickkontakt nicht abreißen zu lassen, doch seine Augen wanderten immer wieder zu dem Buch. »Er muß einen Grund gehabt haben, warum er sich für Sie entschied.«
An der Wand hing eine von Arins Skizzen. Ein Wasserfall. Die Skizze gehörte zu der Sammlung, die Karik ihr bei ihrem lange zurückliegenden Besuch gegeben hatte. »Ich kenne dieses Bild«, sagte Silas.
Was vollkommen unmöglich war. Silas war noch nie bei Chaka zu Hause gewesen. Er bemerkte ihre Verwirrung. »Den Stil«, sagte er und trat zur Wand. »Nicht das, was auf der Zeichnung dargestellt wird. Karik besaß eine Skizze, die dieser hier sehr ähnlich sieht.«
»Ich weiß. Insgesamt waren es zwölf. Arin fertigte sie während der Expedition an. Das war der Grund, aus dem Master Endine ihn einlud mitzugehen. Er wollte visuelle Aufzeichnungen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, er wäre mehr wie ich gewesen.«
»Pardon?«
»Ich kann nicht einmal einen geraden Strich zeichnen.« Das alte Gefühl der Hilflosigkeit und Wut regte sich wieder in ihr. »Als ich Karik besucht habe, nachdem er zurückgekehrt war, gab er mir diese Skizzen. Und dann bat er mich, ob er eine behalten dürfte. Es war eine Flußlandschaft. Sehr still und friedlich. Ich bin sicher, das war die Zeichnung, die Sie gesehen haben.«
Der Wasserfall war sehr breit. Die Zeichnung war mit Nyagara untertitelt. Arin hatte einen winzigen Menschen hinzugezeichnet, um den gewaltigen Maßstab zu verdeutlichen. »Dürfte ich vielleicht einen Blick auf die restlichen Bilder werfen, Chaka?«
Sie brachte die Skizzen aus einem anderen Zimmer. Jede war einzeln in ein Tuch eingeschlagen. Chaka wickelte eine nach der anderen aus und drapierte sie auf dem Tisch. Die Bilder zeigten die Mitglieder der Expedition beim Durchqueren von Flüssen, wie sie von Brücken herabsahen, wie sie im Sonnenuntergang über die uralten Wege der Straßenbauer wanderten. Sämtliche Skizzen waren datiert, so daß es möglich war, sie chronologisch einzuordnen. Drei Zeichnungen erweckten Silas’ besondere Aufmerksamkeit.
Eins trug den Titel Drache und zeigte ein Paar glühender Augen über einem dunklen Wald. Ein anderes, vom darauffolgenden Tag, zeigte eine gespenstische Stadt, die im Dunst oder einem Meer zu schwimmen schien. Die Sonne ging unter, und gewaltige dunkle Türme erhoben sich in der Dämmerung. Das Bild trug den Titel Die Stadt.
»Sieht das nicht unglaublich aus, selbst für die Straßenbauer?« fragte sie.
Er nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das vorhergehende Bild. »Wenn wir dieser Zeichnung glauben wollen«, sagte er, »wird die Stadt von einem Drachen bewacht.«
Sie zuckte die Schultern. »Jedenfalls sieht es so aus.«
»Sollte Arin nicht wirklichkeitsgetreue Zeichnungen anfertigen?«
»Das hatte ich auch gedacht.«
Die Ladenklingel ertönte. Chaka stand auf und ging, um den Kunden zu bedienen. Als sie
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