Die Ewigen
eine entzückende Mail von zwei Seiten, die sich wunderbar liest - und es steht nichts drin. Solche Mails gibt es auch als Antworten auf Mails von ehemaligen Mitstudenten. Ich halte das für Absicht: Sie erzeugt Nebelschwaden und versteckt sich dahinter, denn das kommt höflicher als 'lass mich in Ruhe'."
Weitere Fragen gab es nicht, also ging Shane zum nächsten Lebensabschnitt über.
"Die Studienfächer hat Shara uns richtig genannt. Sie hat mit Germanistik und Publizistik angefangen, nach zwei Semestern dann noch Journalismus dazu genommen. Sie hat in Hamburg studiert, ist etwa zwei Monate nach dem Abitur zuhause ausgezogen. Sie hat erst im Studentenwohnheim gewohnt, dann in einem privaten Zimmer. Sie hat nebenbei gearbeitet - in einer Kneipe als Bedienung, dann als studentische Hilfskraft an der Uni. Mit der Kneipe gibt es noch was: Der Wirt hat sie wegen Körperverletzung angezeigt, weil sie ihm eine Bierflasche über den Schädel gezogen hat, Gehirnerschütterung und Platzwunde. Sie hat auf Notwehr plädiert und gesagt, er habe sie begrapscht, zwei Gäste haben das bestätigt. Also war er dran und nicht sie."
"Braves Mädchen", murmelte ich, was mir einen Blick von Andreas einbrachte, der mir sagte, dass sinnvolle Ergänzungen willkommen waren, solche Bemerkungen dagegen nicht - ich hielt meine Äußerung durchaus für sinnvoll, schlug aber aus alter Gewohnheit trotzdem die Augen nieder.
"Ihren Abschluss hat sie in Germanistik beziehungsweise Mediävistik geschrieben: 'Das Motiv der Rache im Nibelungenlied'. Ich hab die Arbeit in der Datenbank der Uni gefunden, wo sie anderen Studenten als leuchtendes Beispiel dienen soll. Liest sich gut - keine Nebelschwaden, alles harte Fakten und flüssig durchformuliert, geht jedwedem Intellektuellen runter wie Öl."
"Und wie ist sie von Mediävistik zu Frauenratgebern gekommen?", fragte Ciaran, der beim Wort 'Nibelungenlied' aufgemerkt und überrascht gelächelt hatte, was ich aber nicht verstand und was auch nicht näher erläutert wurde.
"Gleich, nur noch ganz kurz was aus ihrer Studienzeit. Sie hatte mit Einundzwanzig einen Autounfall, der ein bisschen seltsam ist: Sie ist in den frühen Morgenstunden von der Fahrbahn abgekommen - das Auto war ein Totalschaden, sie hat Glück gehabt und nur ein paar blaue Flecken sowie das erwähnte Schleudertrauma davon getragen. Einziges nennenswertes Opfer war ein Verkehrsschild mit dem Hinweis, dass auf dieser Straße sechzig Stundenkilometer erlaubt sind. Die Straße war nass, es gab also keine Bremsspur und Shara war laut Alkoholtest stocknüchtern, Drogen waren auch keine im Spiel, und sie war allein im Auto. Die Polizei hat 'Sekundenschlaf' als Unfallursache notiert, aber die Versicherung hat die Geschwindigkeit wegen des hohen Schadens auf über einhundertfünfzig geschätzt, und das auf einer scheinbar sehr schmalen Landstraße. Sie mussten was zahlen, aber da sind ein paar Fragezeichen geblieben."
"Und", ergänzte Josie und schob ein neues Bild auf den Monitor, "wir haben in der Studienzeit erstmals einen Hinweis auf einen Freund. Sie war mit zweiundzwanzig mit diesem jungen Mann in Spanien und Portugal, im Jahr darauf aber mit einer Studienkollegin in Italien, also war da wohl schon wieder Schluss. Er studierte damals auch in Hamburg, ist jetzt Bauingenieur und arbeitet in der Firma seines Vaters. Außer diesem einen Foto aus dem Urlaub keine weiteren Andenken an den Herrn - sie scheinen nicht sehr lange zusammengewesen zu sein, und einen bleibenden Eindruck hat er wohl nicht hinterlassen."
Ich betrachtete das Foto von unserer Prinzessin mit ihrem abgelegten Prinzen, und auch wenn ich mich zur Neutralität zwang, mochte ich ihn nicht leiden. Er machte eine gute Figur neben ihr, war schlank und gebräunt und gut angezogen, aber sein Mund hatte doppelt so viele Zähne wie üblich, die er wohl auch gern herzeigte. Sein Arm lag besitzergreifend um Sharas Schultern, ihr Gesichtsausdruck war schon wieder ein wenig genervt - wohlwollend interpretiert, wahrscheinlich stammte das Bild eher aus der Endphase der Beziehung. Die Fotos von Shara mit einer hübschen, kleinen Dunkelhaarigen am Lago Maggiore gefielen mir da schon besser: Die beiden prosteten mit Rotwein in die Kamera und lachten glücklich.
"Das Mädchen heißt Lilly und war mit Shara in ein paar Seminaren, sie sind auch zusammen nach London geflogen. Mit ihr schreibt sie sich heute noch Mails - nicht häufig, dafür aber ehrliche und deutliche. Die einzigen
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