Die Fackeln der Freiheit: Ein Lord-John-Roman (German Edition)
überlief ihn ein Schauder, als er sich den kopflosen Kadaver vorstellte, sauber zerlegt, den blutdurchtränkten Boden, frei von jeder Spur im Morgennebel, abgesehen von den tiefen Abdrücken des flüchtenden Hirsches und des Mannes, der ihn zur Strecke gebracht hatte.
»Habt Ihr – den Rest an Euch genommen?«
Fraser zuckte mit der Schulter.
»Ich konnte ihn nicht liegen lassen«, sagte er schlicht. »Ich hatte schließlich eine Familie zu ernähren.«
Dann gingen sie schweigend weiter, ein jeder allein mit seinen Gedanken.
DER MOND GING BEREITS UNTER , als sie Glastuig erreichten, und die Anstrengung hatte Greys Lebensgeister ein wenig beruhigt. Sie erwachten jedoch abrupt wieder, als sie die Pforte zwar geschlossen, aber nicht verriegelt vorfanden und im Durchgehen einen Lichtschein auf dem Rasen sahen. Er kam aus einem der Fenster auf der rechten Hausseite.
»Wisst Ihr, welches Zimmer das ist?«, murmelte er Jamie zu und wies kopfnickend auf das beleuchtete Fenster.
»Aye, die Bibliothek«, erwiderte Fraser genauso leise. »Was habt Ihr vor?«
Grey holte tief Luft und überlegte. Dann berührte er Jamies Ellbogen und wies erneut auf das Haus.
»Wir gehen hinein. Kommt mit mir.«
Vorsichtig näherten sie sich dem Haus. Sie gingen am Rand des Rasens entlang und hielten sich in der Nähe der Büsche, doch es war keine Spur von irgendwelchen Dienstboten oder Wachtposten zu sehen. Einmal hob Fraser zwischendurch den Kopf und schnüffelte. Er holte zwei- oder dreimal tief Luft, bevor er auf eins der Nebengebäude zeigte und flüsterte: »Dort ist der Stall. Die Pferde sind fort.«
Das bestätigte das Ergebnis von Jamies vorsichtigen Erkundigungen; im Dorf erzählte man sich, dass sämtliche Dienstboten das Anwesen verlassen hatten. Grey nahm an, dass man die Tiere im Dorf untergebracht hatte.
Konnte der nächtliche Besucher der Vermögensverwalter sein? Grey konnte sich zwar keinen Grund vorstellen, warum ein legitimer Nachlassverwalter dem Anwesen einen Geheimbesuch abstatten musste – aber möglicherweise war der Mann ja bei Tageslicht gekommen, wie es sich gehörte, und hatte sich dann zu lange bei seiner Arbeit aufgehalten? Er blickte zum Mond hinauf; Mitternacht war vorbei. Das zeugte allerdings von größerer Dienstbeflissenheit, als er sie sonst von Anwälten kannte. Vielleicht übernachtete der Mann einfach im Haus und war auf der Suche nach einem Buch, weil er nicht schlafen konnte, dachte Grey und zuckte innerlich mit den Achseln. Meistens war die einfachste Antwort die richtige.
Sie befanden sich jetzt in Schussweite des Hauses. Grey sah sich um und trat dann auf den Rasen, wobei er sich furchtbar beobachtet fühlte, weil der Rasen so hell erleuchtet war wie eine Bühne. Kein Hund bellte, niemand rief ihn an, um zu erfahren, was er hier wollte, und doch bewegte er sich mit lautlosen Schritten vorsichtig über den vernachlässigten Rasen.
Die Fensterbänke befanden sich oberhalb seiner Augenhöhe. Irritiert sah er, dass Fraser, der geräuschlos hinter ihn getreten war, ins Innere des Hauses spähen konnte, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Er reckte den Hals und trat von einem Fuß auf den anderen, um etwas sehen zu können – und erstarrte. Er sagte etwas, nicht nur laut, sondern zu allem Überfluss auch noch auf Gälisch. Aus seinem Tonfall und seiner deutlich sichtbaren Miene schloss Grey, dass es ein Fluch sein musste.
»Was seht Ihr denn?«, zischte er und zupfte Fraser ungeduldig am Ärmel. Der Schotte ließ sich auf die Fersen zurücksinken und starrte auf ihn hinunter.
»Es ist dieser kleine Gauner Twelvetrees«, sagte er. »Er geht Siverlys Papiere durch.«
Den zweiten Teil des Satzes hörte Grey kaum noch; er war schon auf dem Weg zur Eingangstür und erweckte ganz den Eindruck, als sei er bereit, sie einzutreten, wenn sie ihm auch nur den geringsten Widerstand leistete.
Das tat sie nicht. Auch diese Tür war nicht abgeschlossen, und er schob sie mit solcher Gewalt auf, dass sie gegen die Wand der Eingangshalle krachte. Gleichzeitig mit diesem Geräusch erklang ein erschrockener Aufschrei in der Bibliothek, und Grey stürmte durch die offene Tür, aus der das Licht fiel. Er nahm kaum wahr, dass ihm Fraser dicht auf dem Fuße folgte und in drängendem Ton sagte: »Ich hole Euch nicht noch einmal aus dieser vermaledeiten Burg heraus, vergesst das ja nicht!«
Es folgte ein noch lauterer Aufschrei, als er in die Bibliothek platzte, wo Edward Twelvetrees neben dem Kaminsims
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