Die Fackeln der Freiheit: Ein Lord-John-Roman (German Edition)
Diesmal würde es nicht anders sein.
Es war durchaus beruhigend, sich klarzumachen, dass sich Fraser dabei genauso unwohl fühlen würde wie er selbst. Das würde zweifellos verhindern, dass es zu peinlichen Worten kam.
Er fand, dass er mit seinen philosophischen Überlegungen recht gut vorankam, dass ihm aber etwas zu essen durchaus guttun würde; in der Aufregung nach seinem Gespräch mit Hal hatte er den Tee versäumt, und allmählich spürte er die Wirkung des Brandys auf leeren Magen. Er überzeugte sich mit einem Blick in den Spiegel, dass er wirklich alle Mistkrümel aus seinem noch feuchten Haar entfernt hatte, zupfte sich den schlecht sitzenden grauen Überrock zurecht und begab sich nach unten.
Es war früh am Abend, und im Beefsteak war es ruhig. Noch wurde kein Abendessen serviert; es war niemand im Raucherzimmer, und nur in der Bibliothek lag ein Clubmitglied schlafend in einem Sessel, eine Zeitung über dem Gesicht. Im Schreibzimmer drehte ein Mann, der die Schultern konzentriert hochgezogen hatte, auf der Suche nach Inspiration mit dem Federkiel Däumchen.
Zu Greys Überraschung stellte sich heraus, dass der verkrampfte Rücken Harry Quarry gehörte. Gerade richtete sich Quarry mit abwesender Miene auf, entdeckte Grey im Korridor und klatschte alarmiert ein Stück Löschpapier über das Blatt auf dem Schreibtisch.
»Ein neues Gedicht, Harry?«, fragte Grey freundlich und betrat das Schreibzimmer.
»Was?« Harry versuchte, sich ein unschuldiges und verwundertes Aussehen zu geben, was ihm gründlich misslang. »Ein Gedicht? Ich? Ein Brief an eine Dame.«
»Ach ja?«
Grey tat so, als wollte er das Löschpapier anheben, und Quarry schnappte sich eiligst beide Blätter und presste sie fest an seine Brust.
»Wie könnt Ihr es wagen, Sir?«, sagte er mit aller ihm zu Gebote stehenden Würde. »Die Privatkorrespondenz eines Mannes ist heilig!«
»Einem Mann, der ›Apassionatus‹ und ›Cunnilingus‹ reimt, ist gar nichts heilig, das versichere ich Euch.«
Wahrscheinlich hätte er das nie gesagt, wenn ihm nicht der Brandy, der sein Blut wärmte, gleichzeitig die Zunge gelöst hätte. Doch als er sah, wie Harry fast die Augen aus dem Kopf quollen, hätte er trotz seines Bedauerns am liebsten gelacht.
Harry sprang auf und ging zur Tür, um sich wild im Flur umzusehen, bevor er sich umdrehte und Grey anfunkelte.
»Ich würde gern sehen, wie Ihr es besser macht. Wer zum Teufel hat Euch das erzählt?«
»Wie viele Leute wissen denn davon?«, konterte Grey. »Ich habe es erraten.« Das stimmte zwar nicht, doch er wollte seine Informationsquelle nicht preisgeben, denn es war seine Mutter.
»Und Ihr habt es gelesen?« Harrys Gesicht nahm allmählich wieder seine übliche gesunde Farbe an.
»Nun, nein«, räumte Grey ein. »Aber Monsieur Diderot hat einige ausgewählte Passagen laut vorgelesen.« Er grinste unwillkürlich bei der Erinnerung an M. Diderot, der – ziemlich betrunken – einige Verse aus Harrys anonym veröffentlichtem Bändchen Einige Verse zum Thema Eros vortrug, während er in Lady Jonas’ literarischem Salon hinter einer spanischen Wand urinierte.
Harry betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»Mmmpf«, sagte er. »Ihr könntet doch im Leben keinen Daktylus von Eurem linken Daumen unterscheiden. Benedicta hat es Euch erzählt.«
Greys Augenbrauen fuhren in die Höhe. Nicht aus gekränkter Ehre, weil Harry sein literarisches Urteilsvermögen beleidigt hatte – das entsprach ja mehr oder weniger der Wahrheit –, sondern aus Überraschung. Die Tatsache, dass Harry Greys Mutter bei ihrem Vornamen genannt hatte – und damit von allein zugegeben hatte, dass sie von den Gedichten wusste –, verriet Schockierendes über die Intimität ihrer Bekanntschaft.
Er hatte sich schon gefragt, woher seine Mutter wusste, dass Harry erotische Lyrik schrieb. Er zahlte Harry seinen finsteren Blick mit Zinsen heim.
Harry, der zu spät begriff, was er gerade verraten hatte, blickte so unschuldig drein, wie es einem achtunddreißigjährigen Oberst mit weitreichenden Gepflogenheiten, einem lüsternen Appetit und beträchtlicher Erfahrung nur möglich war. Um diesen Unschuldseindruck zu manifestieren, wandte er sich dem Schreibtisch zu und legte die beiden krampfhaft festgehaltenen Seiten erneut dorthin, so als ob wirklich alles völlig harmlos sei.
Grey überlegte indes kurz, ob er eine Staatsaffäre aus diesem Blick machen sollte, doch schließlich war seine Mutter inzwischen
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