Die Fäden des Schicksals
die ich darum gebeten hatte, nach meiner Abreise noch ein, zwei Tage lang meinen Briefkasten zu kontrollieren, um zu sehen, ob es mit dem Nachsendeauftrag klappte, hielt mit ihrer Kritik nicht hinter dem Berg.
»Ein Quiltladen? Du hattest bisher doch noch nicht einmal einen Ganztagsjob! Wenn du mich fragst, Evelyn, hast du nicht alle Tassen im Schrank«, erklärte sie unumwunden. Es fehlte nicht viel, und sie hätte mir ins Gesicht gesagt, dass ich verrückt sei. Doch in Texas hat man vielerlei Umschreibungen für ein und dieselbe Tatsache.
Da ich sie nicht nach ihrer Meinung gefragt hatte, lächelte ich nur und sagte ihr Auf Wiedersehen. Meine Mutter hatte immer einen Spruch parat gehabt, der nicht ganz so unverblümt, aber sehr nützlich war: Wenn du nichts Nettes zu sagen weißt, sag lieber gar nichts. Und ich hatte ganz entschieden nichts Nettes zu Maureen oder den meisten meiner früheren Freundinnen zu sagen – wenn man sie denn als solche bezeichnen konnte.
Mehrere Jahrzehnte lang hatten wir Tür an Tür gelebt, waren gemeinsam mit den Kinderwagen und den Hunden spazieren gegangen, hatten wechselseitig unsere Kinder gehütet, waren zusammen im Elternausschuss und dem Förderverein der Highschool gewesen und hatten reihum Kosmetik-Partys zu Hause veranstaltet. Dennoch ließen die meisten dieser Frauen mich nach meiner Scheidung fallen wie eine heiße Kartoffel. Es war, als hätte ich plötzlich eine ansteckende Krankheit, die auch ihre Ehe befallen könnte.
Wenn ich sie im Lebensmittelladen traf, erkundigten sie sich mitfühlend, wie ich zurechtkäme. Anfangs sagte ich die Wahrheit – dass ich am Boden zerstört war, mich einsam fühlte und mir albern und verraten vorkam. Etwa eine Minute lang blickten sie mich aufmerksam an, schnalzten mitleidig mit der Zunge und nickten hin und wieder verständnisvoll. Doch dann schauten sie auf die Uhr und erinnerten sich plötzlich daran, dass sie dringend etwas zu erledigen hatten. Im Davoneilen versicherten sie noch, dass wir unbedingt einmal zusammen essen müssten, doch dazu kam es nie. Rasch wurde mir klar, dass die Leute, die sich nach meinem Befinden erkundigten, an der Wahrheit gar nicht interessiert waren. Daher ließ es mich völlig kalt, dass meine früheren Freunde meine Pläne nicht guthießen; diese Leute hatte ich bereits vor Monaten abgeschrieben.
Einen Menschen jedoch gab es, der meinen Umzug nach Connecticut befürwortete – Mary Dell Templeton. Ich kannte sie erst wenige Monate, als Rob eines Tages nach Hause kam und verkündete, dass er die Scheidung wollte. Dennoch weiß ich nicht, wie ich ohne sie mit allem fertig geworden wäre. Sie war wirklich ein Geschenk des Himmels. Ist das nicht seltsam? Da hatte ich seit Jahren einen großen Bekanntenkreis, doch letzten Endes erwies sich eine Frau, die ich kaum kannte, als meine beste Freundin.
Mary Dell ist eine Texanerin reinsten Wassers. Ihre Stimme ist wie Zuckersirup, dunkel und honigsüß, und ich kenne sie nur mit einem Glas Dr. Pepper in der Hand. Wir lernten uns im Stoffgeschäft kennen, wo wir beide an einem Applikationskurs teilnahmen. Sie war erst kürzlich von Waco zugezogen und eine hervorragende Quilterin. Später, als ich sie zu Hause besuchte, sah ich, dass die Wände ihres Nähzimmers mit Ehrenschleifen gespickt waren, die sie für ihre originellen Quiltmuster gewonnen hatte. Doch dass sie Talent besaß, hatte ich gleich gemerkt. Als ich mich darüber wunderte, dass sie einen Kurs besuchte, antwortete sie: »Man lernt immer noch dazu, verstehst du, Mädel? Eine reife Frucht wird faul. Habe ich recht, Howard?«
Howard war Mary Dells Sohn. Er war ungefähr in Garretts Alter und litt am Downsyndrom. Zu jedem Quiltkurs begleitete er seine Mutter, was Mary Dell folgendermaßen begründete: »Howard hat ein Händchen dafür, den richtigen Stoff auszusuchen. Ich kann zwar nähen, aber für Farben habe ich genauso wenig Gespür wie für Mode. Stimmt’s, Howard?« – »Stimmt genau, Mama. Überhaupt keins«, erwiderte Howard und schüttelte bedauernd den Kopf.
Da musste Mary Dell lachen und ich auch, weil er recht hatte. Mit Howards Hilfe verlieh Mary Dell ihren Quilts eine unvergleichlich raffinierte Farbigkeit. Doch bei ihrer Garderobe kannte Mary Dell keine Zurückhaltung. Sie kombinierte gern leuchtende Farben und gewagte Muster, meist mehrere gleichzeitig, als wäre sie selbst ein schriller wandelnder Quilt. Doch das Tüpfelchen auf dem i waren ihre absonderlichen Ohrringe: gewaltige
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