Die Fäden des Schicksals
hingerissen von dem riesigen Bildschirm, der unser Wohnzimmer beherrschte. Die erste Sendung, die wir uns ansahen, war die Rosenparade, live aus Pasadena.
Anschließend quälte ich meine arme Mutter so lange, bis sie mich in Miss Yolandas Majorettenschule als Mitglied des American Sweethearts Twirling Teams anmeldete. Vier Jahre lang blätterten meine Eltern jeden Monat zwölf Dollar für Twirlingstunden auf den Tisch und noch mehr für einen Badeanzug in den Nationalfarben und weiße Go-go-Stiefel, die zu unserer Uniform für Paraden und Wettbewerbe gehörten. Ich gewann niemals einen Pokal und marschierte auch nie in der Rosenparade mit, doch immerhin lernte ich zu lächeln.
Miss Yolanda legte sehr viel Wert aufs Lächeln. Wir mussten stets lächeln, ganz egal, was geschah. Ließ man den Stab fallen – lächeln. Verfehlte ein anderes Mädchen seinen durch die Luft wirbelnden Stab, und er fiel einem auf den Kopf – lächeln. Waren die Sweethearts bei der Parade unmittelbar hinter dem Happy Hooves- Reitverein platziert, und man trat bis zu den Knöcheln seiner weißen Go-go-Stiefel in Pferdeäpfel – lächeln.
»Von dem Augenblick an, wo ihr den Stab in die Hand nehmt, will ich nur lächelnde Gesichter sehen«, schärfte Miss Yolanda ihren Sweethearts mit dem Ernst eines Generals ein, der seine Truppen in die Schlacht schickt. »Stellt euch vor, eure Finger und der Stab wären die Enden eines elektrischen Kabels. Sobald sie sich berühren, gehen in eurem Gesicht – zack! – die Lichter an, als hätte man einen Schalter umgelegt. Denkt nicht lange darüber nach, lächelt einfach.«
Ich hatte jahrelang nicht mehr an Miss Yolanda gedacht, doch als ich am Morgen nach meinem Besuch bei Dr. Thayer nach drei Stunden unruhigen Schlafes erwachte, hörte ich ihre Stimme laut und deutlich in meinem Kopf.
»Lächeln!«, kommandierte sie. Und ich gehorchte.
Die ganze Zeit über, während ich die Tür aufschloss und die Gruppe von Quilterinnen begrüßte, die sich bereits im Hof eingefunden hatte, während ich Kaffee und Charlies Kuchen herumreichte und die mit rosa Band zusammengebundenen Präsentbeutelchen verteilte, während ich zwischen den Tischen umherging und den Anfängerinnen zeigte, wie man die Nähte mit dem Markierstift anzeichnete und einen Saum ohne Knoten heftete, während ich die Teilnehmerinnen bei der Farbauswahl und der Anordnung der Applikationen beriet, Anmeldungen für neue Kurse entgegennahm, Stoff, Zubehör, Muster und Quiltbücher verkaufte, die Sachen in Tüten packte, den Kundinnen dankte und ihnen zum Abschied nachwinkte – immer lächelte ich. Ich dachte nicht nach, sondern lächelte einfach. Wie betäubt bewegte ich mich, atmete, lief umher und redete.
Dabei war mir, als gehörten meine Gefühle und Gedanken jemand anderem. So war es die ganze Zeit über gewesen, seit Dr. Thayer mir das Urteil verkündet hatte – Krebs. Ich bekam nicht mehr mit, was er sonst noch sagte, weil ich wie weggetreten war. Er blickte mich mitfühlend an, während er von Behandlungsmöglichkeiten, Therapieplänen, Krankheitsstadien und dem notwendigen Vorgehen sprach. Ich nickte an den richtigen Stellen und schüttelte den Kopf, als er wissen wollte, ob ich noch Fragen hätte.
Als ich aufstand und das Sprechzimmer verließ, wusste ich schon nicht mehr, was er eigentlich gesagt hatte. Oder vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen. Arbeit war die beste Ablenkung, das Allheilmittel gegen die Ängste, die mich plagten, die Tatsachen, die ich nicht wahrhaben wollte.
Um zehn Uhr war mein Geschäft gerammelt voll. Zum Glück hatte ich sechs meiner Stammkundinnen gebeten, mir zu helfen, darunter auch Wendy Perkins, die bei dieser Gelegenheit ihre dicksten Strasssteine trug. Wendy und die anderen begrüßten die Teilnehmerinnen, händigten ihnen die Sets aus, füllten die Erfrischungen auf dem Büffet auf und unterwiesen Neulinge in den Grundlagen des Handquiltens. Ohne meine Helferinnen hätte ich den Tag niemals überstanden.
Um ein Uhr war es so voll, dass kein einziger Platz an den Nähtischen mehr frei war. Da ich mit dem Verkauf beschäftigt war, lief Wendy um die Ecke zu ihrem Maklerbüro und holte einige Klapptische und -stühle. Unterdessen schafften ein paar von den übrigen Frauen Raum in einem Hinterzimmer, wo die gebrauchten Nähmaschinen standen, die ich zum Verkauf anbot.
Der ganze Tag war ein einziges Durcheinander, aber endlich wurde es doch fünf Uhr. Ich dankte Wendy und den anderen
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