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Die Fäden des Schicksals

Die Fäden des Schicksals

Titel: Die Fäden des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Bostwick
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waren, zeigte ich den Frauen, wie man mit dem Bleistift eine Naht vorzeichnete. Damit es schneller ging, gab ich ihnen ein einen halben Zentimeter breites Kreppklebeband, um den Verlauf der Nähte zu markieren. Margot hatte als Erste ihren Block zusammengesetzt, und ich fragte sie, ob ich daran demonstrieren dürfte, wie man den Henkel appliziert.
    Mittlerweile war es draußen beinahe dunkel geworden, sodass ich das Deckenlicht einschalten musste. Meine Augen waren fast so müde wie mein Körper. Bevor ich den ersten Stich tat, musste ich sie reiben und ein paarmal blinzeln, um wieder alles deutlich erkennen zu können.
    »Gut. Sehen sie alle her?« Die drei bejahten.
    »Der Stich, den ich Ihnen jetzt zeige, nennt sich Blindstich, weil er, wenn man ihn richtig ausführt, nahezu unsichtbar ist. Anders als beim Vorstich, mit dem wir unseren Block zusammennähen, machen wir beim Applizieren einen Knoten, den wir jedoch in einer Stofffalte verbergen.« Ich hielt ihnen den gefalteten Stoffstreifen hin, damit sie sehen konnten, wo man mit dem Nähen anfangen musste. Dann begann ich unter ihren Blicken mit dem ersten Stich.
    Ich weiß auch nicht, wie es geschah. Diesen Stich hatte ich schon Hunderte Male vor Anfängern demonstriert, ohne dass etwas passiert war. Doch als ich diesmal die Nadel durch den Stoff schob, stieß ich sie mir tief in den Finger.
    »Autsch! Verdammt!« Unwillkürlich ließ ich den Stoff fallen und steckte den Finger in den Mund. Das Blut schmeckte scharf und metallisch, so als würde ich an einem alten Penny lutschen. Es tat weh, aber so sehr nun auch wieder nicht. Und es war ja nicht das erste Mal, dass ich mich beim Nähen gestochen hatte. Dennoch traten mir die Tränen in die Augen.
    Margot bemerkte es und fragte: »Alles in Ordnung, Evelyn?« Als ich nicht antwortete, sprang sie auf. »Lassen Sie mich mal sehen. Geben Sie mir Ihre Hand.« Behutsam öffnete sie meine Finger. Auf einer Fingerkuppe saß ein leuchtend roter Blutstropfen.
    »Das hat bestimmt wehgetan«, bemerkte sie voller Mitleid, nahm einen Stoffrest und presste ihn auf meinen Finger, um die Blutung zu stillen. »Keine Angst. Gleich ist alles wieder gut.«
    Aber es war nicht gut. Jetzt nicht, in einem Monat nicht und vielleicht nie wieder. Die Worte, die ich so hartnäckig ignoriert hatte – Krebs, Chemo, Bestrahlung, medikamentöse Therapie, Überlebensraten und Mastektomie –, drängten in einem wirren Knäuel an die Oberfläche meines Bewusstseins. Mein ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Ich konnte einfach nichts dagegen tun.
    »Was soll ich nur machen?«, jammerte ich. »Was? Ich bin Tausende von Kilometern von zu Hause entfernt. Ich habe niemanden. Warum passiert das gerade mir? Ausgerechnet jetzt, wo endlich alles gut läuft. Ich darf keinen Krebs haben! Nicht ausgerechnet jetzt!«
    Ich vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte verzweifelt, bis meine Tränen versiegten. Endlich hob ich den Kopf und blickte die drei fremden Frauen an, die Zeugen meines Zusammenbruchs geworden waren.
    Abigail schwieg; ihre Miene war undurchdringlich. Aus Lizas Wangen war auch noch das letzte bisschen Farbe gewichen. In ihren Augen standen Tränen, doch sie blickte mich ratlos an. Nur Margot trat zu mir und nahm mich in den Arm.
    »Bitte. Jemand soll mir bitte sagen, was ich tun soll«, flüsterte ich ihr zu.

12
    Abigail Burgess Wynne
    Heute Morgen beim Anziehen ließ ich die Kameebrosche fallen, die Woolley mir in London gekauft hat. Als ein Stückchen von der Brosche abplatzte, wusste ich, es würde kein guter Tag werden.
    Für diese Erkenntnis hätte ich freilich kein Vorzeichen gebraucht.
    Die Vorstellung, den ganzen Nachmittag an einem Quilt zu nähen, hatte für mich nichts Verlockendes, zumal Liza neben mir sitzen und mich die ganze Zeit über vorwurfsvoll anblicken würde. Aber da half alles nichts. Ich zog mich also fertig an und spazierte langsam über den Anger, um mich mit Liza zu treffen.
    Ich kam zu spät, wenn auch bei Weitem nicht so spät, wie Liza gegenüber zwei wildfremden Menschen behauptete. Dieses Mädchen muss aus allem ein Drama machen. Doch da ich die Sache durch Widerworte nur schlimmer gemacht hätte, zog ich es vor, Liza zu ignorieren und mich vollkommen auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ich wollte die Quälerei ohne unerfreuliche Szene hinter mich bringen. Dass es am Ende doch noch dazu kam, lag überraschenderweise nicht an meiner wütenden,

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