Die Fäden des Schicksals
Ellbogen, half ihr beim Aufstehen und stützte sie, als Evelyn mit müden Schritten zur Treppe ging. »Liza, würden Sie das Licht ausmachen und nachsehen, ob das »Geschlossen«-Schild an der Tür hängt?«
Einen Augenblick lang stand ich einfach da und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich kannte Evelyn Dixon nicht; keiner von uns kannte sie. Erwartete Margot tatsächlich von mir, dass ich mit nach oben in Evelyns Wohnung ging und ihr Tee kochte? Nachdem Liza ihren Auftrag erledigt hatte, eilte sie an mir vorbei die Treppe hinauf, ohne mir auch nur ihren obligatorischen bösen Blick zuzuwerfen. Da ich mir dumm vorkam, als ich allein in dem dunklen Laden stand, folgte ich den anderen.
Oben in der kleinen, hübsch eingerichteten Wohnung legte sich Evelyn auf ein schmales grünes Sofa. Liza breitete einen Quilt über ihre Beine. Obwohl sie verweinte Augen hatte, lächelte sie doch tatsächlich. Seit sie bei mir lebte, hatte ich Liza nur selten lächeln sehen. Sie sah dann wirklich recht hübsch aus.
Margot kam mit einer Packung Kleenex aus einem Nebenraum und reichte Evelyn einige Tücher. Ich ging in die Küche, die eigentlich nur aus einer Küchenzeile bestand und durch eine Theke mit Hockern vom Essbereich abgetrennt war, und setzte Wasser auf. Es war ein komisches Gefühl, in den Schränken und Schubladen eines fremden Menschen herumzukramen, doch schließlich fand ich den Schrank, wo Evelyn Teebeutel und Zucker aufbewahrte. Ein paar Kräcker waren auch noch da. Da sie den ganzen Tag über den Laden voller Kundinnen gehabt hatte und obendrein wegen ihrer Diagnose am Boden zerstört war, hatte Evelyn womöglich das Essen vergessen, dachte ich mir. Natürlich hatte sie größere Probleme als einen knurrenden Magen, doch Hunger und Erschöpfung machten die Lage nicht angenehmer.
Ich bin keine großartige Köchin, doch Käsehäppchen schneiden kann schließlich jeder. Im Kühlschrank fand ich ein Stück Cheddar und ein paar Weintrauben, die ich zusammen mit den Kräckern auf einer Servierplatte anrichtete.
»Bitte sehr«, sagte ich munter, als ich das Tablett mit dem Essen und den vier dampfenden Teetassen in den Wohnbereich trug. »Zitrone konnte ich nicht finden, aber hier ist Milch und Zucker für den Tee und bisschen was zu knabbern. Darf ich Ihnen etwas auf den Teller tun, Evelyn?«
»Nein danke, ich habe keinen Hunger.« Ihre Tränen waren jetzt versiegt, doch ihre Augen noch immer rot gerändert, und sie sah aus, als würde sie bei der kleinsten Gelegenheit wieder zu weinen anfangen.
»Warum nehmen Sie nicht ein Häppchen?«, drängte Margot und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, etwas Käse und einige Kräcker auf einen Teller und reichte ihn Evelyn. »Ich wette, Sie haben den ganzen Tag noch nichts gegessen, stimmt’s?« Evelyn schüttelte den Kopf. »Und außerdem sind Sie bestimmt erschöpft«, fuhr Margot fort. »Ohne Schlaf und mit leerem Magen kann man keinen klaren Gedanken fassen. Dabei müssen Sie sich doch einen Plan zurechtlegen, wie es mit Ihrem Leben und Ihrem Geschäft weitergehen soll, solange Sie gegen diese Sache kämpfen. Und wir werden Ihnen dabei helfen.«
Wir?
Margot Matthews ging mit den persönlichen Fürwörtern überaus großzügig um. Gewiss, ich bewunderte sie für ihre Tatkraft und ihre Umsicht in schwierigen Situationen. Im Grunde genommen wunderte es mich, dass man sie entlassen und keine andere Firma sie gleich vom Fleck weg eingestellt hatte, doch jetzt übertrieb sie ein bisschen. Es macht mir ja nichts aus, den barmherzigen Samariter zu spielen, das bewies schon mein Engagement für örtliche Wohltätigkeitsprojekte, aber hatten wir nicht alle unsere gute Tat für heute schon vollbracht? Immerhin hatte bis zu diesem Nachmittag keine von uns Evelyn Dixon jemals gesehen.
Evelyn schluckte den Bissen hinunter, auf dem sie gehorsam herumgekaut hatte. »Wirklich? Aber Sie kennen mich doch kaum. Sie haben mich heute zum erstem Mal gesehen«, sagte sie.
Ganz meine Meinung.
»Was macht das für einen Unterschied?«, erwiderte Margot. »Gott hat uns schließlich in die Welt gesetzt, damit wir einander helfen, oder etwa nicht?«
Oh nein, so eine war sie also. Gemäßigte religiöse Gefühle tun ja keinem weh, aber Menschen, die mit ihrer Religiosität hausieren gehen, finde ich abstoßend. Und zu diesen Leuten gehörte Margot meiner Ansicht nach. Plötzlich verstand ich, warum sie schon so lange arbeitslos war. Vielleicht hatte sie ihre Kollegen mit ihrer Frömmelei
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